„Meine Zukunft, denke ich, immer reden alle von dieser Zukunft und behaupten, es wäre meine. Aber ich bin mir sicher, dass das gelogen ist.“ (S. 133)
Mit den Zukunftsaussichten ist es wahrlich nicht weit hier, hier im Tal, einem kleinen Touristenort, der außerhalb der Saison in Trostlosigkeit versinkt. Erst recht, seit die Milchfabrik geschlossen wurde, in der die Väter ihre vermeintlich sicheren Arbeitsplätze an die Söhne vererbten. Und umso mehr, wenn man wie die fünfzehnjährige Ich-Erzählerin Julia, das „asoziale Verliererkind ohne Eltern“, in der örtlichen Hauptschule zur „Restmüll“-Klasse gehört (dort landet man, „wenn man kein Italienisch kann und schlecht im Sichbewegen ist“, und dort muss man letztlich „nichts Besonderes mehr leisten, außer existieren, aber auch das ist manchmal schwer“).
Dass Julia nicht verzweifelt, liegt vor allem an ihrem älteren Bruder und ihrer „Crew“. Hier hält man zusammen, hier frühstückt man gemeinsam an der Straßenecke die letzte Zigarette vor dem Unterricht, hier sind alle gleich – zumindest bis zu diesem fatalen Abschlussjahr und jenem überzogenen Geschichtsprojekt, das weniger der Bildung der Klasse, als vielmehr der Profilierung des ambitionierten Lehrers dient. Plötzlich scheint ein Immer-weiter-So nicht mehr möglich zu sein – auch wenn Julia das nicht wahrhaben will …
Man könnte 2001, den frisch bei Hanser Berlin erschienen Roman von Angela Lehner, als Porträt einer nicht ganz so fernen Vergangenheit und als Schilderung einer weitestgehend perspektivlosen Dorfjugend betrachten. Dann würde man aus 2001 vermutlich eine alles in allem harmlose, wenn nicht sogar belanglose, dennoch durchaus unterhaltsame Geschichte mit einer schnoddrigen, vielleicht auch nervigen Protagonistin herauslesen. Könnte man.
Man kann sich aber auch – und dazu möchte ich bei der Lektüre unbedingt raten – auf ebendiese Protagonistin einlassen, ihr zuhören, zwischen ihren Zeilen lesen, ihren Beobachtungen folgen. Und man liest die herzzerreißende Geschichte einer nahezu chancenlosen Heranwachsenden, die sich durchs Leben und den Alltag schlägt, ohne zu merken, dass sie sich durchschlägt – sie kennt es ja nicht anders. Die schon früh gelernt hat, dass man mit seinen Ressourcen haushalten muss, „und am besten haushalten kann man eben mit Bolognese und Emmentalerbrot“. Die ihre Schuhe trägt, bis sie buchstäblich auseinanderfallen – aber, ja nun, so geht es ja nicht nur ihr. Die ihren Bruder über alles liebt und nicht verstehen kann, warum der sich letztlich selbst mehr lieben muss als sie, um nicht unterzugehen im Tal. Die durchaus große Träume hat, auch wenn man ihr sagt, dass der Fame nicht ihr Weg sei und sie in der Realität ankommen müsse. Und die neben allen Alltagshindernissen wie jeder Teenie über Teenie-Kram nachdenkt wie zum Beispiel den ersten Kuss.
Angela Lehner schildert ihre Protagonistin und deren Lebensumstände so eindringlich und subtil, dass sich mir so manches Mal das Herz vor Mitgefühl zusammenzog. Sie erklärt und erläutert nicht, sondern lässt ihre Ich-Erzählerin beobachten und erzählen. Dabei sind es die scheinbaren Nebensächlichkeiten, wie beiläufig hingeworfen, die das Teenagerleben in diesem Milieu auf beinahe unheimliche Art lebendig werden lassen: Ein Rezept an der Kühlschranktür. Blutflecken auf den Socken. Ein hastig angerührter Fertig-Cappuccino auf dem Couchtisch. TV-Geräusche aus dem Wohnzimmer.
Angela hat mich mit ihrem Erstlingsroman Vater unser schon begeistert (der Protagonistin Eva wollte ich Suppe kochen); mit 2001 hat sie sich in meinen Augen noch gesteigert. Und Julia würde ich nicht nur bekochen, ich würde sie adoptieren.
Danke, Angela, dass du kein One-Hit-Wonder bist!
[Werbung/Rezensionsexemplar. Ich danke Angela Lehner und Hanser Berlin von Herzen dafür, dass ich diesen Roman schon vor seinem Erscheinen lesen durfte.]
Angela Lehner: 2001. Hanser Berlin 2021. 384 S.
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