„Die Kindheit ist lang und schmal wie ein Sarg, aus dem man sich nicht allein befreien kann.“ (Pos. 342)
Es ist ein einfaches, ziemlich tristes Leben, das die kleine Tove im Kopenhagen der 1920er Jahre führt. Ihre Mutter ist ihr gegenüber abweisend, gleichgültig, oft kaltherzig. Der Vater ist überzeugter Sozialdemokrat, unter dessen Ägide an Heiligabend nicht etwa Weihnachts-, sondern sozialdemokratische Kampflieder gesungen werden (und Toves Kinderherz verkrampft sich stets „aus Angst und Scham, weil ringsherum, selbst bei den versoffensten und gottlosesten Nachbarn, die schönsten Kirchenlieder erklingen“). Es ist eine ärmliche Welt, in der Armut dennoch als Schande gilt, in der man das altbackene Brot nur heimlich kauft und in der man auch keinen arbeitslosen Vater haben darf, auch wenn das auf die Hälfte der Kinder in der unmittelbaren Nachbarschaft zutrifft. (Man versucht, diese offenkundige Tatsache zu verschleiern, indem man kurzerhand behauptet, der Vater sei vom Gerüst gefallen und krankgeschrieben.)
Toves Bewältigungsstrategie, ihr Weg, sich aus diesen beengten und trostlosen Lebensumständen wenigstens zeitweilig zu befreien, sind Bücher und Worte sowie der Traum, Dichterin zu werden:
„In meinem Inneren krochen lange, merkwürdige Wörter hervor und legten sich wie eine Schutzhülle über meine Seele. Ein Lied, ein Gedicht, etwas Linderndes, Rhythmisches und unendlich Melancholisches, das jedoch nie so leidvoll und traurig war, wie der Rest meines Tages unweigerlich sein würde. Wenn mich diese hellen Wogen von Wörtern durchströmten, wusste ich, dass meine Mutter mir nichts mehr anhaben konnte, denn in diesem Moment hörte sie auf, für mich von Bedeutung zu sein.“ (Pos. 97)
Gleichzeitig sind die Bücher auch das, was sie von anderen Kindern unterscheidet: „Ich bin seltsam, weil ich wie mein Vater Bücher lese, und weil ich nicht verstehe, wie man spielt.“ (189) Sie lassen Tove anders erscheinen, nicht „normal“, wie ihr durchaus bewusst ist: „Ich weiß genau, wie schlimm es ist, nicht normal zu sein, ich habe ja selbst meine liebe Not damit, so zu tun, als wäre ich es.“ (Pos. 751)
Und so hangelt Tove sich mit ihren Träumen und Büchern von Tag zu Tag, bis Tove vierzehn ist und ihre Kindheit endet, „leise auf den Grund der Erinnerungen [sinkt], dieser Seelenbibliothek, aus der ich bis an mein Lebensende Wissen und Erfahrungen schöpfen werde“ (Pos. 1296).
Die außergewöhnlich vielen Zitate meiner Inhaltsangabe deuten es schon an: Kindheit hat mich sowohl inhaltlich als auch sprachlich restlos überzeugt. Es kommt zwar sehr oft vor, dass ich mir einzelne Sätze und Passagen in Büchern markiere, doch in diesem Fall ist meine „Wow! Das muss ich mir merken“-Liste länger als sonst.
Wen das Gefühl beschleicht, all dies irgendwie irgendwo in irgendeiner Form schon mal gelesen zu haben – hat vollkommen recht. Diese Form des autobiografischen, sich selbst und die eigene Biografie sezierenden Schreibens kennt man heute bspw. von Annie Ernaux oder Deborah Levy. Nur, dass Tove Ditlevsen dies schon vor über fünfzig Jahren tat. „Schreiben heißt, sich selbst auszuliefern“, sagte Tove Ditlevsen einmal, wie uns die Übersetzerin Ursel Allenstein in ihrem (ebenfalls äußerst lesenswerten!) Nachwort wissen lässt, „sonst ist es keine Kunst. Man kann das verschleiern, aber letzten Endes schreibt man doch immer über sich selbst.“ Und dieses „Selbst“, von dem Ditlevsen hier schreibt, das kleine Mädchen, das sich in seiner Kindheit gefangen fühlt, und seine Geschichte, haben mich von der ersten Seite an gefesselt. Es gelingt der Autorin, mit wenigen, schnörkellosen und zugleich emotional kraftvollen Worten eine Atmosphäre, ja, eine Welt heraufzubeschwören, die so plastisch und greifbar ist, dass ich förmlich in dieses beschriebene Leben hineingesogen wurde. Ich war an der Seite der kleinen Tove, als sie sich scheu um die Liebe ihrer Mutter bemühte, als sie ihren Träumen, Dichterin zu werden, nachhing, als sie sich beklommen fragte, was nach der Kindheit kommen würde. Ich hatte teil an ihren Lebensumständen, ihren Gefühlen, ihren Gedanken, kurz: an ihrer Kindheit.
Für mich ist Kindheit schon jetzt ein Jahreshighlight! Und es ist eines der seltenen Bücher, die ich, obwohl ich sie schon als E-Book gelesen habe, unbedingt noch als Druckexemplar haben muss. Kennt ihr das? Es gibt Bücher, die mir als E-Book vollkommen ausreichen (meist Krimis oder Thriller, die ich rasch weginhaliere), und andere, die ich beim Blick ins Bücherregal sehen kann, die ich fühlen, riechen, mit allen Sinnen buchstäblich be-greifen will.
Kindheit ist übrigens der erste Band einer Trilogie, der erstmalig in deutscher Übersetzung (von Ursel Allenstein) vorliegt. Ich für meinen Teil kann es kaum erwarten, auch die nächsten Bände (Jugend und Abhängigkeit, ET 15.02.2021) zu lesen.
[Werbung/Rezensionsexemplar. Ich danke NetGalley und dem Aufbau Verlag von Herzen für dieses literarische Highlight.]
Tove Ditlevsen: Kindheit. Erster Teil der Kopenhagen-Trilogie. Aus dem Dänischen und mit einem Nachwort von Ursel Allenstein. Aufbau Verlag 2021. (E-Book)
Kommentar schreiben
Benedikt (Freitag, 29 Januar 2021 14:17)
Sehr Interessant : )
M.L. (Freitag, 29 Januar 2021 23:24)
Die Begeisterung schwappt über... Ich bin neugierig geworden, obwohl mich der Inhalt ehrlich gesagt gar nicht anspricht. Tolle Rezension!