Anna Mitgutsch: Die Züchtigung

„Wenn wir versuchen, uns zu definieren, wenn uns andere mit Worten zu fassen suchen, greifen wir auf unsere Mütter zurück.“ (S. 133)

Marie wächst als Kind einer Bauernfamilie in einem österreichischen Dorf auf, ungeliebt und misshandelt, ausgebeutet und einer auch nur ansatzweise harmonischen Kindheit beraubt. Sie heiratet und zieht mit ihrem Mann in die Stadt, doch ihrer traumatisierenden Kindheit kann sie nicht entfliehen. Sie wünscht sich, dass ihre Tochter Vera einst ein besseres Leben als sie selbst führt, und diesen ‚Wunsch‘ bläut sie Vera buchstäblich ein, die vermeintliche Undankbarkeit der Tochter treibt sie ihr aus. Täglich. Unberechenbar. Unausweichlich. Marie schlägt ihr Kind aus den nichtigsten Anlässen, sie überschüttet ihre Tochter mit derselben Gnadenlosigkeit und Lieblosigkeit, die sie erlebt hat. 

In ihrem Roman Die Züchtigung (dtv) schildert Anna Mitgutsch den Liebesentzug, die Aggressivität und Brutalität der Mutter und die Hilflosigkeit, das Gefühl des Ausgeliefertseins aus Veras Sicht. Der Verzicht auf Anführungszeichen, die streckenweise langen Absätze und die Erzählperspektive verleihen dem Roman eine Unmittelbarkeit und Intensität, dass ich während des Lesens meinte, sie am eigenen Leib und der eigenen Seele zu spüren. Ein Beispiel: Als kleines Kind spielt Vera im Küchenschrank, ihrem „Haus“, den Schlüssel verbummelt das kleine Mädchen. Typischer Alltag mit einem Kleinkind? Nicht bei Marie: 

„Wo ist der Schlüssel, fragt Mama, wo hast du den Schlüssel versteckt? Schlüssel weg, sage ich und will weiterspielen. Sie hält mich am Arm, daß es weh tut, wo ist der Schlüssel, bring sofort den Schlüssel her, sagt sie drohend. Ich habe Angst, aber keine Erinnerung an den Schlüssel. Schlüssel weg, sage ich weinend, während sie mich hin und her schüttelt. Ich möchte ihr ja helfen, aber ich weiß auch nicht, wo der Schlüssel ist, und ich weiß nur diese zwei Worte dafür, Schlüssel weg.“ (S. 80)

Die titelgebenden Züchtigungen werden immer strenger und schlimmer (die Zitate erspare ich euch und mir an dieser Stelle), doch auch die Schilderungen des bewussten, vorsätzlichen Liebesentzugs waren für mich nur schwer zu ertragen. Vera ist mittlerweile Gymnasiastin:

„Vor dem ersten Vierer durfte ich noch auf ihrem Schoß sitzen und mit den Fingern ihr Gesicht berühren, ich durfte sie küssen und mich in ihrem Arm geborgen fühlen. Aber der erste Vierer kam am Ende der ersten Klasse Gymnasium, und damit brach unerbittlich der letzte spärliche Körperkontakt, die letzten Spuren von Zärtlichkeit ab. Ich war damals elf Jahre alt. Es dauerte zwölf Jahre, bis ich wieder ein menschliches Gesicht berührte.“ (S. 162)

Die körperlichen und seelischen Misshandlungen gehen nicht spurlos an Vera vorbei. Auf der Suche nach Liebe und Zuwendung entwickelt sie ausgeprägte Essstörungen: „Zuerst aß ich um der Liebe willen, später fastete ich um der Liebe willen.“ (S. 176), und gelangt zu folgender bitterer Selbsterkenntnis: „Immer wieder habe ich mich ausgelöscht und Befehle an mir vollstreckt, ich bin ein gehorsames Opfer.“ (S. 179)

Vera versucht – verständlicherweise und gleichzeitig ironischerweise genau wie ihre Mutter zuvor – ihrer Tochter eine bessere, eine andere Mutter zu sein als Marie:

„War deine Mutter so wie du, fragt meine zwölfjährige Tochter, während sie sich an die Badezimmertür lehnt und mich beim Kämmen betrachtet. […] Nein, sage ich, nein, deine Großmutter war ganz anders. Wie anders? Stell dir das Gegenteil vor. Sie zögert, sieht mich fragend an. Wie soll sie sich das Gegenteil vorstellen, wenn ich ihr ein Rätsel bin. Ein Rätsel und eine Selbstverständlichkeit. Wie meine Mutter für mich, bis heute.“(S. 5)

Doch es scheint, als wiederhole sich die Geschichte wieder und wieder, fast, als sei die Toxizität der Mutter-Tochter-Beziehung in die Zellstruktur der Vor- und Nachfahrinnen gesickert, um dort unauslöschlich und generationenübergreifend ihr Unwesen zu treiben:

„Ich will nicht mehr leben, sagt mein Kind, und dreht den Kopf zur Wand. Sie stößt mich von sich, wenn ich sie berühre, sie sagt, laß mich, du verstehst mich nicht. Sie hat dunkle Schatten unter den Augen und einen vom Weinen zerronnenen Mund. Dein Essen kotzt mich an, sagt sie, deine Ideen kotzen mich an, dein Getue. Ich stehe in der Tür mit hängenden Armen.“ (S. 211)

 Die Züchtigung ist ein Roman, den man keinesfalls lesen sollte, wenn man sich gerade in einer etwas dünnhäutigen Phase befindet. Es ist buchstäblich eindringliches, ein in die Leserin eindringendes, ein, ich möchte fast sagen: übergriffiges, Buch – und gerade deswegen unbedingt lesenswert. 

 

(Anna Mitgutsch: Die Züchtigung. dtv, 256 S.)

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