Heilstätten Beelitz, 1907: Wohlbefinden gilt als „das oberste Therapeutikum“. Dort werden sie wieder zu Kräften gebracht, die unterernährten, erschöpften, kranken Arbeiterinnen und Arbeiter, entfliehen für ein paar Monate dem beschwerlichen Alltag: Erholung nach akkuratem Plan inmitten englischer Landhausarchitektur (die so viel besser fürs gesundheitsfördernde Wohlbefinden ist als die deutsche Architektur!).
Ebendort treffen Anna und Johanna aufeinander. Die eine ist eine lungenkranke Patientin und, so heißt es, hellseherisch begabt, die andere eine verheiratete Schriftstellerin, die über die Heilstätten schreiben will: größer könnten die Unterschiede kaum sein. Johanna lädt Anna in die großbürgerliche Villa ein, damit diese ihr bei dem Buch helfe – mit ungeahnten Folgen.
Berlin, 1967: Die betagte Johanna kämpft gegen das Vergessen und das Vergessenwerden. Je mehr ihr Geist sich umnachtet, umso klarer wird ihr Blick auf ihre Vergangenheit. Und die will sie noch ein letztes Mal in Worte fassen.
Berlin/Beelitz 2020: Johannas Urenkelin Vanessa sucht eine Wohnung, in der kurzen Atempause der Pandemie zwischen dem ersten und dem zweiten Lockdown. Es eilt, sehr, die Frist läuft ab. In den ehemaligen Heilstätten, derweil zu Luxuswohnungen saniert, findet sie zwar keine neue Bleibe, dafür, vollkommen unvermutet, Spuren ihrer Urgroßmutter: Ein bislang unbekanntes Manuskript, das Vanessas Neugier auf die Vergangenheit, die auch ihre eigene ist, weckt.
Das Wohlbefinden war für mich ein faszinierendes Leseerlebnis. Es gab viele Aspekte, mit denen ich mich schwertat: Ich wurde mit keiner der Frauenfiguren richtig warm, sie blieben für mich insgesamt etwas blass und eindimensional, auch die komplizierte Beziehung zwischen Johanna und Anna konnte ich nicht recht durchschauen. Einzig die alte, zunehmend dementer werdende Johanna vermochte mich in diesem Figurentableau zu berühren. Die drei Zeitebenen fand ich einerseits spannend, andererseits lenkten sie mich stellenweise zu sehr vom Hauptstrang der Erzählung zu Beginn des 20. Jahrhunderts ab.
Gleichzeitig konnte ich das Buch nicht aus der Hand legen, ließ mich hineinziehen in diese Melange aus Okkultismus und Medizin, weiblicher Selbstbehauptung und modernen Alltagssorgen. Und vielleicht macht das den Kern der Literatur aus: Dass sie Emotionen, auch und gerade widersprüchliche, weckt. Dass sie einen zu fesseln vermag, auch wenn man sich innerlich dagegen sträubt. Dass sie etwas in einem anstößt, auch wenn man es gar nicht bewusst merkt. Kurz: Dass sie eine Wirkung entfaltet, mag sie auch noch so subtil sein.
[Werbung/Rezensionsexemplar. Ich danke dem Klett-Cotta Verlag sowie NetGalley herzlich für die kostenlose Bereitstellung des E-Books.]
Ulla Lenze: Das Wohlbefinden. Klett-Cotta Verlag 2024. 336 S.
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