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Marianne Philips: Die Beichte einer Nacht

„Ist es denn so schlimm zuzuhören, wenn ein anderer etwas erzählt, was er nur ein Mal im Leben erzählen kann? Stellen Sie sich einfach vor, Sie wären ein Engel, der in die Hölle blickt, Schwester!“ 

 

Es ist eine ruhige, beinahe beschauliche Nacht – und das ist keineswegs selbstverständlich! –, als Leen beschließt, der so freundlich und verständnisvoll wirkenden Nachtschwester ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Und die hat es, wie ihr aktueller Aufenthaltsort bereits ahnen lässt, in sich: Leen ist bei den „Isolierten“ untergebracht, jener Station, deren Patientinnen auf eine mehr oder weniger bewegte Vergangenheit blicken, die letztlich darin gipfelte, dass sie dort sind, wo sie sind.

 

Tatsächlich hatte Leen einen alles andere als leichten Start ins Leben. Als ältestes von zehn Kindern und einer ausgelaugten Mutter, musste sie schon früh Verantwortung für den Haushalt und die kleineren Geschwister übernehmen. Und wann immer sie dachte, jetzt kehre auch für sie ein wenig Ruhe ein … kam ein neues Geschwisterchen. Überdies verarmte die ehemals gut situierte Familie zusehends. Kein Wunder, dass die junge, lebenshungrige  und überdies ausnehmend hübsche Leen so schnell wie möglich von zu Hause wegwollte. Sie war die Gehilfin einer Schneiderin, dann Verkäuferin, schließlich Verkaufsleiterin eines vornehmen Kaufhauses. Die notwendigen Fähigkeiten – Fremdsprachen, eine distinguierte Haltung, ein vornehmes Wesen – eignet sich die begabte junge Frau mit Beharrlichkeit selbst an. Ja, was Leen bewerkstelligt hat, darf man mit Fug und Recht eine Karriere nennen. Es folgt die beinahe unausweichliche Heirat mit einem reichen Mann, die ebenso unausweichliche Trennung und endlich, endlich! die große Liebe. Es könnte so wunderbar sein, dieses Leben, für das Leen so hart gearbeitet hat – wenn da nicht ihre kleine Schwester Leentje wäre, das einstmals schreiende Baby, das in der übermüdeten Leen Mordgelüste weckte, das reizende, liebenswerte Mädchen, für das Leen nach dem Tod der Mutter die Verantwortung übernimmt, die zurückhaltende, bildschöne junge Frau, die das fragile Glück der zweiten Ehe Leens bedroht …

 

Die Beichte einer Nacht (aus dem Niederländischen von Eva Schweikart) von Marianne Philips ist für mich eine der faszinierendsten Neuentdeckungen dieses Jahres. Der 1939 erstmals erschienene Roman bietet ein sprachlich bemerkenswertes, ziemlich schonungsloses und seine Leser*innen gefangennehmendes Psychogramm einer Frau, die sich auf der Suche nach Liebe, Glück und Wohlstand in den Strudeln und Abgründen ihrer Seele und Gedanken verliert, bis sie keinen Ausweg mehr sieht. 

 

Wie dem Nachwort zu entnehmen ist, ist der Roman biografisch geprägt: Auch Marianne Philips erlebte als Kind den sozialen Abstieg ihrer Familie, auch sie kümmerte sich nach dem Tod der Mutter um ihre jüngeren Geschwister, arbeitete in einer Schneiderwerkstatt und lebte in einer heruntergekommenen Mietkammer. Vielleicht sind es diese Erfahrungen, die den Roman so greifbar und zeitlos erscheinen lassen? 

Mich hat es übrigens, obgleich es vorher erschienen und somit als Vorläufer (oder möglicherweise als Inspirationsquelle?)  zu betrachten ist, zu Teil an Irène Némirovskys Jesabel, zum Teil an Tove Ditlevsens Kindheit und teilweise an die Romane Ruth Rendells erinnert, allesamt Werke bzw. Autorinnen, die ich überaus schätze – und so ist es wohl kein Wunder, dass Die Beichte einer Nacht für mich ein Highlight meines bisherigen Lesejahres ist. Kurzum: große Leseempfehlung!

 

[Werbung/Rezensionsexemplar. Ich danke dem Diogenes Verlag und NetGalley herzlich für die kostenlose Bereitstellung des E-Books.]

 

Marianne Philips: Die Beichte einer Nacht. Aus dem Niederländischen von Eva Schweikart. Diogenes Verlag 2021 (E-Book)

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