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Caroline Corcoran: Die Nachbarin

Wie gut kennt ihr eure Nachbarn?

Lexie und Harriet leben Tür an Tür, Wand an Wand in einem eleganten Apartmenthaus in London. Und obgleich sie einander nie persönlich kennengelernt haben, meint jede, ihre Nachbarin zu kennen, allein anhand dessen, was sie durch die Wände hört (und in den sozialen Medien recherchiert). Lexie beispielsweise hört Harriet Klavier spielen und singen und beinahe allabendlich wilde Partys feiern. Klar: die Nachbarin führt ein wahnsinnig aufregendes berufliches und soziales Leben, etwas, das sie selbst schmerzlich vermisst, seit sie ihren Job gekündigt hat, um mit ihrem Freund Tom endlich eine Familie zu gründen. Harriet wiederum „weiß“, dass Lexie total glücklich mit Tom zusammenlebt und allseits beliebt ist. Und das ist ihr ein Dorn im Auge. Denn eigentlich sehnt Harriet sich nach einer gescheiterten Beziehung nach einem Mann wie Tom. Nein, nicht nach einem Mann WIE Tom, sondern nach Tom. Und damit nicht nur nach einem Leben wie Lexies, sondern genau nach dem Leben Lexies. Das einzige, was sie, wie Harriet meint, von diesem Ziel trennt, ist – Lexie. 

 

Ich habe Die Nachbarin verschlungen! Und das nicht etwa, weil dieser Thriller eine Spannungsgranate ist, sondern weil er packend und durchaus tiefgründig die Eindrücke, Fantasien und Seelenleben seiner beiden Protagonistinnen auslotet. Der Roman ist abwechselnd aus Lexies und Harriets Sicht jeweils in der Ich-Perspektive geschrieben, wobei jeweils das, was die eine sich zusammenfantasiert und die andere tatsächlich fühlt und erlebt, in einem überaus reizvollen Kontrast steht. Ich habe mir während der Lektüre immer wieder die Frage gestellt, wie viel wir von jemandem tatsächlich wissen können, von dem wir nur den äußeren Schein kennen, wie viele Abgründe sich hinter einer scheinbar perfekten Fassade verbergen. Denn sich rasch zeigt, ist die wunderschöne, erfolgreiche Harriet alles andere als seelisch stabil, ihre Vergangenheit obskur. Die fröhliche und liebenswerte Lexie wiederum entwickelt sich zu einem zunehmend gereizten Nervenbündel, dessen Gedanken nur noch um die schwierige Familienplanung kreist. Neid einerseits und Bewunderung andererseits: das ist, was die beiden jungen Frauen – deren Figuren angenehm nuanciert gezeichnet sind – bewegt. Nur dass beide höchst unterschiedliche Wege der „Bewältigung“ einschlagen. Wie Harriet unbemerkt immer tiefer in Lexies Leben eindringt, wie Lexie zunehmend an ihrer Wahrnehmung zweifelt, fand ich ausgesprochen fesselnd.

 

Wer einen spannungsgeladenen Thriller erwartet, in dem ein dramatischer Höhepunkt den nächsten jagt, wird von diesem Roman vermutlich eher enttäuscht sein. Wer indes eine Story zu schätzen weiß, in der sich, je nach Perspektive, Schein und Sein, Fantasie und Realität abwechseln, ergänzen, widersprechen, wird Die Nachbarin mit Sicherheit ebenso gerne lesen wie ich. Von mir gibt es eine klare Leseempfehlung!

 

[Werbung/Rezensionsexemplar. Ich danke dem Bloggerportal von RandomHouse und dem Heyne Verlag herzlich für das mir kostenlos zur Verfügung gestellte Leseexemplar.]

 

Caroline Corcoran: Die Nachbarin. Heyne Verlag 2020. 448 S.

 

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