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Cline: The Girls, Bugliosi: Helter Skelter

„Wie heißen Sie gleich nochmal?“

„Evie Boyd“, sagte ich, und der Ausdruck, der plötzlich in sein Gesicht trat, überraschte mich: zum Teil Wiedererkennen, aber auch echtes Interesse.

„Moment mal“, sagte er. […] „Die sind Sie?“ (S. 19)

 

Es kommt nicht mehr oft vor, dass Evies Namen in ihren Gesprächspartnern Erinnerungen weckt. Erinnerungen an jenen verstörenden und betörenden, die gesamte Nation erschütternden Sommer 1969. Mittlerweile ist Evie über vierzig, das Erbe bis auf den letzten Cent ausgegeben, eine sich von Job zu Job hangelnde Krankenpflegerin, die nur allzu oft auf die Großzügigkeit guter Freunde angewiesen ist, die ihr, wann immer sie es braucht ein Dach über dem Kopf bieten. Damals jedoch … damals war Evie 14, ein unglücklicher, einsamer Teenager. Der Vater hat die Familie verlassen, die Mutter ist ausschließlich mit ihrer Selbstfindung und der Suche nach einem neuen Partner beschäftigt, mit der besten Freundin hat sie sich zerstritten und nach den Ferien droht ihr die Unterbringung in einem Internat. Als sie die Mädchen, allen voran die schwarzhaarige 19-jährige Suzanne, im Park erblickt, ist sie sofort von ihnen fasziniert. Bald schon nehmen die Mädchen Evie mit auf in ihren „Clan“, ein zusammengewürfelter Haufen von Männern, Frauen und Kindern, die in vermeintlich vollkommener Harmonie auf einer heruntergekommenen Farm leben, alles miteinander teilen – und blind ihrem Anführer Russell folgen. Schnell wird Suzanne zu einer Art großer Schwester für Evie, der Clan ihre Ersatzfamilie. Und obgleich sie rasch zu ahnen beginnt, dass mit dieser Gemeinschaft etwas ganz und gar nicht stimmt – der Drogenkonsum, die verstörenden „Rituale“ und vor allem Russell, dem alle hörig sind – kann sie sich von ihnen nicht lösen. Evie überschreitet eine Grenze nach der anderen, sie verdrängt ihren Ekel, ihre Abscheu, ihre Angst – und steuert sehenden Auges auf eine Katastrophe zu.

 

The Girls ist eines der faszinierendsten, fesselndsten und zugleich am meisten verstörenden Bücher, die ich je gelesen habe. Sezierend, kompromisslos und sprachlich fulminant (grandios übersetzt von Nikolaus Stingl) lässt Emma Cline ihre Ich-Erzählerin berichten, wie sie sich wider besseres Wissen immer weiter in die absonderlichen – und bald auch gewalttätigen – Lebensgewohnheiten des Clans verstrickt, wie sich sich stets bewusst ist, dass das, was sie (mit-)erlebt, falsch ist – und wie sie sich doch nicht von dieser zerstörerischen Gemeinschaft lösen kann, teils aus Angst, teils aufgrund ihres Wunsches dazuzugehören, ihrer Sehnsucht, nicht mehr einsam zu sein.

 

Russell, der Clan, die Farm, die Ereignisse des Sommers 1969 – sie alle haben ihr reales Vorbild in Charles Manson und seiner „Family“. Mir ist während der Lektüre bewusst geworden, wie wenig ich – abseits der wohl allgemein bekannten brutalen Morde – tatsächlich über die Manson-Family weiß. Nun kann man sicherlich einwenden, dass diese Bildungslücke nicht zwangsläufig gefüllt werden muss, doch mein Interesse an den Hintergründen war geweckt. Und so las ich im direkten Anschluss an The Girls das Buch Helter Skelter – die wahre Geschichte des Serienmörders Charles Manson. Auch wenn der geschmacklos reißerische Titel abschreckend sein mag: der Autor Vincent Bugliosi war in dem aufsehenerregenden Prozess Stellvertretender Bezirksstaatsanwalt, er berichtet also gleichsam aus erster Hand.

 

In Helter Skelter zeichnet er detailliert die Ereignisse nach, die sich vor und nach den bestialischen Morden zugetragen haben: die krude und todbringende Ideologie der „Family“, die unzähligen fassungslos machenden Ermittlungsfehler, die teils atemberaubenden Manöver der Verteidigung, die Begleitung dieses aufsehenerregenden Prozesses durch die Medien. Für mich war es eine interessante, erschütternde, erkenntnisreiche Lektüre, die mir überdies gezeigt hat, wie nah Emma Cline in The Girls den historischen Tatsachen und Vorbildern kommt.

 

Deshalb gibt es von mir eine sehr große Leseempfehlung für beide Bücher, insbesondere in ihrer Kombination!

 

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Emma Cline: The Girls. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. dtv 2018. 348 S.

 

Vincent Bugliosi: Helter-Skelter – die wahre Geschichte des Serienmörders Charles Manson. riva Verlag 2010. (E-Book)

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