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Whitney Scharer: Die Zeit des Lichts

„Meine Kunst – sie hat damit zu tun, wann ich auf den Auslöser drücke. Es geht nicht darum, etwas in Szene zu setzen und dann zu fotografieren. Es geht darum, im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein und sich für etwas zu entscheiden, obwohl niemand sonst irgendetwas darin sieht.“ (Pos. 4554)

Selbst Kunst zu machen, und nicht länger ein (Kunst-)Objekt zu sein – das ist es, was die junge Elizabeth „Lee“ Miller sich wünscht, als sie Ende der 1920er Jahre New York hinter sich lässt. Zu diesem Zeitpunkt ist Lee als Model für die Vogue überaus erfolgreich, wird für ihre Schönheit bewundert. Doch das reicht ihr nicht. Selbst fotografieren, statt fotografiert zu werden, selbst Künstlerin zu sein, statt nur Modell für andere Künstler – dafür schlägt ihr Herz. Und wo könnte sie ihr neues Leben, ihren Durchbruch besser schaffen als in Paris, diesem avantgardistischen Hotspot der amerikanischen Expats? Es ist eine Zeit des künstlerischen Aufbruchs zu neuen Ufern, die Zeit der Surrealisten und Dadaisten – es ist eine „Zeit des Lichts“. Doch die Anfangszeit ist ernüchternd. Lee findet sich nur schwer in Paris zurecht, findet keinen Anschluss, weder zu der Kunstszene noch überhaupt zu anderen Menschen. Sie fühlt sich einsam. Allein. Und das Geld wird auch langsam knapp. Da lernt sie auf einer Party, auf die es sie mehr durch Zufall denn durch Einladung verschlägt, den bereits berühmten Künstler und Fotografen Man Ray kennen. Dank ihrer Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit wird sie zunächst Man Rays Assistentin, dann auch seine Geliebte – ehe es ihr langsam gelingt, sich buchstäblich aus seinem Schatten ins Licht hervor zu kämpfen. 

Die Zeit des Lichts ist ein wunderbarer und sehr angenehm zu lesender Roman, der seine Leser*innen auf eine Zeitreise mitnimmt und der ebenso beeindruckenden wie tragischen Fotografin Lee Miller ein literarisches Denkmal setzt. Denn Lee fotografierte nicht nur unter künstlerischen Gesichtspunkten, sondern war überdies Kriegsberichterstatterin. Und gerade diese traumatischen Erlebnisse – Lee Miller war u. a. als Fotografin bei der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau zugegen – ließen sie den Rest ihres Lebens nicht los. Heute würde man wohl von einer Posttraumatischen Belastungsstörung sprechen, zu ihrer Zeit blieb Lee Miller nur die Flucht in den Alkohol.

Der Roman widmet sich in erster Linie Lee Millers Zeit der künstlerischen Emanzipation in Paris, wird jedoch immer wieder von Einschüben unterbrochen, die von ihrer Zeit als Kriegsfotografin erzählen. Dieses Nebeneinander von dem aufgeregten Aufbruch einer lebenshungrigen jungen Frau einerseits und der erschütterten, schockierten und dennoch ihrer Pflicht nachkommenden Journalistin andererseits bilden einen erzählerisch reizvollen Kontrast und tragen dazu bei, die Frau Lee Miller in ihren verschiedenen Facetten zu erkennen. Ich habe Die Zeit des Lichts ausgesprochen gern gelesen, einzig die Ausführlichkeit, mit der Lees Beziehung zu Man Ray beschrieben wird, hätte aus meiner Sicht gerne etwas gestraffter wiedergegeben werden können. Doch das tut dem Lesegenuss keinen großen Abbruch. Und so empfehle ich die Lektüre von Herzen gern – vor allem all jenen, die sich für Kunst, für Fotografie, für die Expat-Kultur zwischen den Weltkriegen in Paris und für faszinierende Frauen interessieren.

 

Whitney Scharer: Die Zeit des Lichts. Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner. Klett-Cotta 2019. (E-Book)

 

[Werbung/Rezensionsexemplar. Ich danke Netgalley und Klett-Cotta herzlich für die kostenlose Bereitstellung des E-Books.]


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