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Adélaïde Bon: Das Mädchen auf dem Eisfeld

Als die Protagonistin neun Jahre alt ist, wird sie von einem fremden Mann im Treppenhaus ihres Elternhauses missbraucht. Sie vertraut sich ihren Eltern an, sie erstatten Anzeige, ihr Leben geht weiter. Scheinbar unbeschwert. Jahrelang. Sie geht jahrelang zur Therapie, das schon, doch gleichzeitig ist die extrovertiert, studiert Schauspiel, ist der Mittelpunkt jeder Gesellschaft, lacht, quasselt, tanzt, flirtet. Das traumatische Erlebnis hat keine nennenswerten Spuren hinterlassen. Scheinbar. Denn in ihrem Inneren sitzen Quallen, die mit ihren Tentakeln nach ihr greifen, sie umfangen, festhalten, ihr den Atem rauben. Und da ist dieser Ort, auch in ihrem Inneren. Dort steht sie, „klein und verloren und frierend, in einer immensen weißen Wüste, wartet. Diesen Ort nennt sie ‚mein Mädchen auf dem Eisfeld‘, ahnt aber nicht, dass das Mädchen noch lange dort ausharren muss“.

 

Erst über zwanzig Jahre später wird der Täter gefasst und vor Gericht gestellt. Sie erkennt, dass sie bei weitem nicht die Erste und erst recht nicht die Einzige ist, die ihm zum Opfer fiel. Sie erkennt nach und nach - die Erinnerung will sich erst viele, viele Jahre später einstellen, langsam, bruchstückhaft, ein Mosaik der Angst -, dass der vermeintliche Missbrauch eine Vergewaltigung war. Sie erkennt, dass sie nicht alleine ist. Und sie erkennt, dass Heilung möglich ist. Allen Umständen zum Trotz.

 

Adélaïde Bon schildert das, was sie selbst als Kind erlebt hat, mit einer Kraft, die mir schier den Atem raubt. Die Abspaltung, die Dissoziation, die ein solches Trauma nach sich zieht, drücken sich unmissverständlich und unmittelbar in der wechselnden Erzählperspektive aus. Da ist zunächst von der namenlosen „sie“ die Rede, dann tritt, ganz zaghaft und vereinzelt, „Adélaïde“ namentlich in den Vordergrund, und schlief, anfänglich vereinzelt, dann immer häufiger, „ich“. Die Sprache ist klar und sachlich, zugleich berührend und poetisch.

 

Man muss dieses Buch mit einer Warnung versehen: Es sickert einem ins Bewusstsein. Setzt sich dort fest. Hinterlässt Spuren. Denn Adélaïde Bon lenkt ihren Blick von ihrer persönlichen Geschichte nach außen:

 

„[...] in den meisten Fällen gibt es bei sexuellem Missbrauch weder menschenfressende Ungeheuer noch Zauberfeen. Die meisten pädokriminellen Straftäter sind ganz reizende Menschen. Verwandte, gute Freunde, Nachbarn, Lehrer, unsere Idole, unsere Elite. Sie sind überzeugend in ihrer Rolle als aufrichtige Männer, ideale Mütter, hart arbeitende Fachleute. In Frankreich, wo etwa jedes fünfte Kind sexuelle Gewalt erlebt, wird nur wenigen von ihnen zugehört und noch seltener werden die Täter vor Gericht gestellt. Seit Jahrhunderten sind Vergewaltigungskultur, männliche Vorherrschaft und Kindesmisshandlung Teil unserer Gesellschaft. Wie viele geschlagene Kinder, wie viele von Angehörigen sexuell missbrauchte Kinder gibt es wohl unter unseren Vorfahren? Wie viele Mädchen wurden zwangsverheiratet, wie viele Frauen Abend für Abend unter dem Deckmantel der ehelichen Pflicht vergewaltigt? Wie viele Ehemänner, wie viele Väter haben sich das Recht herausgenommen, Handgreiflichkeiten als Mittel zum Stressabbau einzusetzen? Die ganze Menschheit ist ein Kind der Vergewaltigung, ein auf dem Eisfeld frierendes, wartendes Kind.“ (S. 146f.)

 

Das Mädchen auf dem Eisfeld ist ein intensives, erschütterndes, wichtiges, bemerkenswertes Buch. Unbedingt lesenswert.

 

Adélaïde Bon: Das Mädchen auf dem Eisfeld

 

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