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Delphine de Vigan: Loyalitäten

Es gibt Bücher, die man, durchaus mit großem Unterhaltungswert, einfach so ‚wegliest‘, und es gibt Bücher, die noch lange, nachdem man sie zugeschlagen hat, in einem nachwirken. Delphine de Vigans Loyalitäten zählt für mich eindeutig zu letzteren: ein Roman, dessen Nachhall ich noch lange spüren werde.

Théo ist 12 Jahre alt, still und in sich gekehrt, Scheidungskind – und Trinker. Sein einziger Freund Mathis macht anfangs mit, hält ihre heimlichen Ausflüge in ihr Geheimversteck für ein Abenteuer, eine Mutprobe, einen Streich. Doch schon bald bemerkt Mathis, dass das Trinken für Théo weit mehr ist. Ohne Halt, zerrissen zwischen seiner verbitterten Mutter und seinem vereinsamten, zunehmend alltagsunfähigen Vater, ist der Alkohol Théos einziger Weg, seiner Lebenswirklichkeit zu entfliehen: „Es ist eine Wärmewelle, die er nicht zu schreiben weiß, brennend, versengend und schmerzlich und tröstlich zugleich (…)“, denn  „nach einigen Minuten explodiert etwas in seinem Hirn“. Théo hat nur ein Ziel: „Eines Tages möchte er gern das Bewusstsein verlieren, völlig. Sich für ein paar Stunden oder für immer in das dicke Gewebe der Trunkenheit fallen, sich davon bedecken, begraben lassen, er weiß, dass so etwas vorkommt.“

Den beiden Jungen stellt die Erzählerin zwei erwachsene Frauen gegenüber: Hélène, Théos und Mathis‘ Lehrerin, und Cécile, Mathis‘ Mutter. Die eine möchte dem in sich gekehrten Jungen helfen, doch sie kommt nicht recht an ihn heran. Die andere sieht in Théo eine Bedrohung für ihren eigenen Sohn, einen schlechten Einfluss, vor dem sie Mathis beschützen will. Gleichzeitig haben beide Frauen ihre eigenen, tiefgreifenden Probleme. Hélène fühlt sich durch Théo an ihr eigenes, bis heute nachwirkendes Kindheitstrauma erinnert, Cécile macht eine Entdeckung, die ihr Weltbild ins Wanken bringt.

Trotz des relativ geringen Umfangs – der Roman umfasst gerade einmal gut 170 Seiten – ist Delphine de Vigan ein wirklich großes Werk gelungen. Es mag hauptsächlich und vordergründig um Loyalitäten bzw. deren Bruch gehen, wie der Titel und die der Handlung vorangestellten Definitionen suggerieren. Doch daneben handelt der Roman von Verantwortung und ihren Grenzen, vom Hin- und Wegsehen, von der Frage nach Angriff oder Flucht. Er wirft die Frage auf, wie ‚erwachsen‘ Kinder sein müssen oder überhaupt können und in wie vielen Erwachsenen ein verletztes, unsicheres, trauriges Kind weiterlebt.

Der besondere Reiz dieses Buches lag für mich nicht zuletzt in Delphine de Vigans Art zu erzählen. Ihre Sprache ist nüchtern, beobachtend, beschreibend, und ebendiese Schnörkellosigkeit traf mich – ich muss zu dieser abgedroschenen Metapher greifen – mitten ins Herz. Überdies wechselt sie entsprechend der jeweiligen Figur, die im Fokus steht, die Perspektive zwischen auktorialem und personalem Erzähler. Die Théo und Mathis betreffenden Kapitel sind in der dritten Person geschrieben, die auf Hélène und Cécile bezogenen in der ersten Person: die einen sind Subjekt und Agens, die anderen Objekt und Patiens – doch dankenswerterweise ist de Vigan eine zu talentierte Erzählerin und ihr Roman zu vielschichtig und feinsinnig, als dass die Figuren in plumper Schwarzweißmalerei oder einem allzu offensichtlichen Täter-Opfer-Schema versumpfen. Ein bemerkens- und lesenswertes Buch!

 

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