In der Verlagsinformation zu diesem Buch heißt es unter anderem:
„Wie sich die eigene Stimme finden lässt, wenn die Gesellschaft Schweigen befiehlt – mit diesem Buch steigt Rebecca Solnit endgültig aufs Podest zu Joan Didion und Susan Sontag. […] Im San Francisco der achtziger Jahre herrscht eine harsche Atmosphäre der Misogynie, Gewalt gegen Frauen ist an der Tagesordnung, wird hingenommen, nicht hinterfragt.“
Den Vergleich mit Joan Didion und Susan Sontag, so viel sei bereits jetzt verraten, braucht Rebecca Solnit wahrlich nicht zu scheuen. Doch die erwähnte allseits herrschende Misogynie fand ich, bevor ich zu lesen begann, zugegebenermaßen sehr übertrieben. Ich meine – hey, es sind die Achtziger, nicht das 18. Jahrhundert, es ist San Francisco, der Ort, der in meiner Vorstellung ein Hort der Toleranz ist! Wie falsch ich mit meiner Grundannahme lag, wurde mir indes sehr schnell klar. Ja, es war eine Atmosphäre der Misogynie, und diese Atmosphäre ist noch immer da. Vielleicht nicht mehr ganz so stark, vielleicht mit mehr Achtsamkeit und einem stärker geschärften Bewusstsein betrachtet – aber zweifellos nicht verschwunden.
Anhand ihrer Lebensgeschichte und der Geschichte ihrer Selbstfindung und -entfaltung als Autorin entwirft Rebecca Solnit ein gesellschaftliches Panorama tiefverwurzelter und erschreckend selbstverständlicher Frauenfeindlichkeit, derer man sich auch heute im Alltag kaum bewusstwird und die doch alle Frauen betrifft:
„Es war damals allgegenwärtig. Und ist es bis heute. Einer Frau konnte ein bisschen Leid zugefügt werden – durch Beleidigungen und Drohungen, die sie daran erinnerten, dass sie weder frei noch sicher noch im Besitz gewisser unveräußerlicher Rechte war –, größeres durch Vergewaltigung-Entführung-Folter-Einsperrung-Verstümmelung, und am Ende stand der Mord, doch die Möglichkeit des Todes schwang bei den anderen Übergriffen immer mit. Eine Frau konnte in Teilen ausgelöscht werden, sodass sie weniger wurde, weniger Selbstvertrauen, weniger Freiheit besaß, oder ihre Rechte wurden unterwandert, es wurde auf ihren Körper übergegriffen, sodass er immer weniger der ihre war, schließlich konnte sie voll und ganz ausradiert werden, und keine dieser Möglichkeiten schien sonderlich abwegig. All diese entsetzlichen Dinge, die anderen Frauen widerfuhren, weil sie Frauen waren, konnten dir auch selbst widerfahren, denn auch du warst eine Frau. Selbst wenn du nicht getötet wurdest, wurde etwas in dir abgetötet, das Gefühl von Freiheit, Gleichberechtigung, Selbstvertrauen.“ (Pos. 576ff.)
Gewalt gegen Frauen begegnet uns in Filmen, „in denen ein in all seinen grässlichen Einzelheiten dargestellter Mord an einer schönen Frau ein gängiges Motiv war, um die Handlung voranzutreiben, oder ein weiblicher Leichnam als ästhetisches Objekt galt“ (Pos. 611 ff.). Sie begegnet uns in der Werbung, in der Literatur, in der Mythologie, ohne je hinterfragt worden zu sein:
„Dass so viele griechische Mythen von Vergewaltigung oder von Frauen handeln, die vor einer Vergewaltigung fliehen, kam nie zur Sprache. Was, glaube ich, nicht daran lag, dass wir zu empfindsam gewesen wären, um diesem Thema ausgesetzt zu werden, das ohnehin überall auftauchte, in Popsongs genauso wie in Sonetten und Klassikern; vielmehr war die Realität, die Allgegenwart von Vergewaltigungen mit all ihren Auswirkungen auf sonderbare Weise unnennbar, in der Kunst wie im Leben.“ (Pos. 1287 ff.)
Warum diese Misogynie so lange so unerwähnt blieb, erklärt Rebecca Solnit mit dem Fehlen einer Stimme, die darauf hinweist, bzw. mit dem Nicht-Erkennen dieses Fehlens, denn
„manchmal fehlt etwas so grundsätzlich, dass selbst das Wissen um sein Fehlen fehlt. So verhielt es sich bei mir mit der Stimme, mit der ich hätte sagen können: Nein, kein Interesse, lass mich in Ruhe – das ist mir erst kürzlich klar geworden.
Wir verwenden oft den Ausdruck ‚zum Schweigen gebracht‘, der voraussetzt, dass jemand zunächst einmal versucht hat, etwas zusagen. In meinem Fall passt der Ausdruck nicht, denn bei mir wurde kein Sprechen unterbunden: Es hatte nie begonnen oder war schon so früh im Keim erstickt worden, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann.“ (Pos. 720 ff.)
Rebecca Solnits Buch ist maximal lesenswert: Es ist erschreckend, erhellend, erkenntnisreich. Ich habe mir selten zu einem Buch so viele Notizen gemacht, habe selten ein Buch so oft aus der Hand gelegt, um über das Gelesene nachzudenken, habe mich selten so sehr an der pointierten Sprache (Aus dem amerikanischen Englisch von Kathrin Razum) Buches erfreut und – auch das will ich an dieser Stelle unbedingt betonen! – ich habe selten ein so exzellent lektoriertes Buch gelesen. Ein riesengroßes Kompliment an die Kolleg*innen!
[Werbung/Rezensionsexemplar. Ich danke NetGalley und dem Hoffmann und Campe Verlag herzlich für das mir kostenlos zur Verfügung gestellte E-Book.]
Rebecca Solnit: Unziemliches Verhalten. Wie ich Feministin wurde. Aus dem amerikanischen Englisch von Kathrin Razum. Hoffmann und Campe 2020. (E-Book)
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