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Anita Brookner: Hotel du Lac

Urlaub. Das ist es, was Edith jetzt braucht. Zumindest sind sich ihre wohlmeinenden (?) Freunde darüber einig. Auf jeden Fall muss sie raus aus England, nach dem, was sie sich geleistet hat. Und so findet sich die eigensinnige und ein wenig eigenbrötlerische Schriftstellerin im titelgebenden Hotel du Lac am Genfer See wieder, jenem unter seinen Stammgästen beliebten Haus, in einem Zimmer, das „in der Farbe von zu lange gekochtem Kalbfleisch“ gehalten ist und an dessen Wänden „eine ferne Erinnerung an schwere Mahlzeiten zu haften“ scheint. Die Saison ist so gut wie vorbei und außer Edith befinden sich nur noch wenige Gäste in dem Hotel, das als Ort bekannt ist, „der einem vom Leben Misshandelten oder auch nur Erschöpften einen erholsamen Aufenthalt garantierte“. Sie trifft auf ein irritierend inniges Mutter-Tochter-Gespann, auf eine von ihrer Familie vergessene Comtesse, die magersüchtige Gattin eines Adeligen, der sich einen Erben wünscht. Und auf einen potenziellen Heiratskandidaten. Denn ist es nicht das, was Edith eigentlich braucht? Weder Ruhe noch Abstand, sondern „eine gesellschaftliche Position“ in Form einer Ehe? Eben darin lag, wie im Laufe der Handlung offenbart wird, Ediths beispielloser Fauxpas (als Leserin möchte man hingegen meinen, es sei vielmehr ein beispielloser Akt gesunden Menschenverstandes), der ihr nicht ganz freiwilliges Exil begründete: Sie, die nicht mehr ganz Junge, auch nicht überragend Schöne und damit auf dem Heiratsmarkt nicht allzu  Chancenreiche, hat ihren Bräutigam sitzenlassen. Vor dem Altar. Beim Anblick seiner „ganzen[n] mausartige[n] Spießigkeit“ konnte sie nicht anders. (Und man will sie dazu nur beglückwünschen!) Des ungeachtet ist die Chance auf eine „sichere, vernünftige Zukunft“ allerdings irgendwie auch verlockend …

 

Anita Brookners 1984 mit dem Booker Prize ausgezeichneter Roman Hotel du Lac ist eine der charmantesten literarischen Wiederentdeckungen, die ich seit Langem gelesen habe – auch wenn mir die in Ediths Umfeld allgegenwärtige Obsession, eine Frau gehöre verheiratet, allzu oft ein überraschtes Stirnrunzeln entlockte. Denn diese Haltung hätte ich aus heutiger Sicht allenfalls in den Fünfzigerjahren verortet. Ernsthaft: Waren wir, war die Gesellschaft in den Achtzigern nicht schon viel, viel weiter?! Neben dem atmosphärischen Handlungsort, der irgendwo zwischen Thomas Manns Zauberberg und Vicki Baums Menschen im Hotel angesiedelt ist, den spleenigen Figuren und der in ihrer latenten Verpeiltheit entzückenden Protagonistin ist Hotel du Lac, wie meine außergewöhnlich zahlreichen Zitate schon andeuten, insbesondere in sprachlicher Hinsicht ein wahrer Lesegenuss. Deshalb: ganz große Leseempfehlung!

 

[Werbung/Rezensionsexemplar. Ich danke Netgalley und dem Eisele Verlag herzlich für das mir zur Verfügung gestellte E-Book.]

 

Anita Brookner: Hotel du Lac. Mit einem Vorwort von Elke Heidenreich. Aus dem Englischen von Dora Winkler. Eisele Verlag 2020. 224 S.

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