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Celeste Ng: Unsre verschwundenen Herzen

„Der Spruch ihres Vaters: Der Stock trifft den Vogel, der den Kopf am höchsten hält. Der Spruch ihrer Mutter: Der Nagel, der herausragt, wird flach gehämmert.“ (S. 191)

 

Es begann mit einer Krise, die immer weitere Kreise zog: Die Kosten stiegen, die Löhne sanken, die Menschen verloren ihre Arbeit, dann ihre Wohnungen und Häuser, die Not wurde stetig größer. Auf Angst und Fassungslosigkeit folgte Wut. Und die Suche nach einem Schuldigen. Nach anfänglicher Ohnmacht und Tatenlosigkeit präsentiert die Regierung die Ursache für die Krise: unamerikanische Werte und Verhaltensweisen, die Schuldigen: illoyale Amerikaner, und eine Lösung: PACT – Preserving American Culture and Traditions. Denn ist das nicht das, was die amerikanische Welt vor ihrem Untergang bewahrt? Ist das nicht das, was Amerika wieder groß machen wird? Die Bewahrung der Traditionen, der Kampf gegen alles, was staatszersetzend, unpatriotisch, ja, schlicht unamerikanisch ist? Wenn das bedeutet, genau hinzusehen, was der Nachbar tut: nun ja. Wenn das bedeutet, unamerikanische Umtriebe zu erkennen, zu verfolgen und, wenn nötig, mit der Wurzel herauszureißen: okay. Und wenn das bedeutet, dass unpatriotischen, unamerikanischen Eltern die Kinder weggenommen werden, damit sie nicht länger diesem Staatswohl- und Seelenheil-gefährdenden Umfeld ausgesetzt werden: Tja. Let’s do it for our country.

 

Bei dem zwölfjährigen Bird liegt der Fall etwas anders: Nicht er wurde aus seiner Familie genommen, vielmehr hat seine Mutter Margaret ihn und seinen Vater verlassen. Denn Margaret hat nicht nur asiatische Wurzeln – in diesem Amerika der Inbegriff des „Unamerikanischen“, das es um jeden – wirklich jeden! – Preis zu vermeiden gilt –, sie ist überdies die Dichterin des Poems „Unsre verschwundenen Herzen“, das sich allmählich und unaufhörlich zur Hymne der Anti-PACT-Demonstrant*innen entwickelt. Für Bird gilt seitdem, sich ruhig zu verhalten, nicht anzuecken, bloß nicht aufzufallen. Denn aufzufallen heißt, gejagt zu werden. Doch dann erhält Bird eines Tages einen Brief von seiner Mutter, die Botschaft ist verschlüsselt. Und Bird beschließt, sich auf die Suche nach ihr zu machen. Wie gefährlich das auch sein mag.

 

Celeste Ngs Roman Unsre verschwundenen Herzen (aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit) geht unweigerlich unter die Haut, und das umso mehr, wenn man bedenkt, dass die Autorin bereits im Oktober 2016, also noch vor der Präsidentschaftswahl, aus der Donald Trump als Sieger hervorgegangen ist, mit ihrer Arbeit an dem Buch begonnen hat. Jetzt, mehr als sechs Jahre, eine Amtszeit Trumps als Präsident mitsamt seinem MAGA-Getöse, eine Pandemie und einen Sturm aufs Kapitol später, wirkt Unsre verschwundenen Herzen weniger wie eine Dystopie, sondern realistischer, als man sich eingestehen will. Ein eindringliches Buch, eine intensive Lektüre: ganz große Leseempfehlung!

 

Celeste Ng: Unsre verschwundenen Herzen. Aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit). dtv 2022. 400 S.

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