„Stell dir eine Zukunft vor, in fünf Jahren, in zehn Jahren. […] Dann haben wir uns an ein Gesellschaftsbild gewöhnt, in dem Menschen wie Autos sind. Sie müssen einmal im Jahr zur Inspektion, damit man sie wieder gefahrlos in den Verkehr lassen kann. Wenn etwas kaputt geht, muss es repariert werden. So einfach ist das.“
Stell dir vor, du könntest den Charakter eines Menschen, seine moralische Integrität, kurz: ob er nach den gängigen gesellschaftlichen Maßstäben als „gut“ oder „böse“ zu gelten hat, einwandfrei auf den ersten Blick feststellen. Würde das den Umgang miteinander nicht vereinfachen, gar verbessern? Würde es deine gefühlte wie tatsächliche Sicherheit nicht maximieren? Würde es dich nicht vor unliebsamen Überraschungen, vor menschlichen Enttäuschungen und letztlich vor gewalttätigen Übergriffen, seien sie physisch oder psychisch, schützen? Wäre das nicht die ideale Lösung für ein friedfertiges, respektvolles Miteinander? Wäre das nicht der Schlüssel zu einer besseren Gesellschaft und damit, ja: zu einer besseren Welt? Vielleicht sogar der besten aller Welten?
Island in nicht allzu ferner Zukunft: Der so genannte Empathie-Test ermöglicht es frühzeitig, die charakterliche Festigkeit und moralische Vertrauenswürdigkeit einer Person festzustellen. „Frühzeitig“: Das heißt, bevor sich die potenziell negativen Eigenschaften manifestieren. Das heißt, im Kindesalter. Wer den Test besteht, erhält eine entsprechende „Markierung“, dessen soziales Fit-in ist über jeden Zweifel erhaben. Schon entstehen die ersten Wohnhäuser, Blocks, Siedlungen und Viertel, die nur nachweislich Markierten zugänglich sind. Wer durchfällt, wird in einem engmaschigen therapeutischen Netz aufgefangen, es soll ja grundsätzlich niemand zurückgelassen werden, nicht wahr. Ob in Schulen oder Unternehmen, allerorts greift die Aufforderung, sich markieren zu lassen, um sich.
Nun stehen Wahlen an, und das alles beherrschende Thema ist die Frage, ob die Markierungspflicht gesetzlich festgelegt werden sollte. Im Dienste der öffentlichen Sicherheit und damit zum Wohle der Bevölkerung. Wer sich widersetzt, kann nur etwas zu verbergen haben, … oder?
Die Markierung, der erste Roman der isländischen Lyrikerin Fríða Ísberg (aus dem Isländischen von Tina Flecken), hat mich von der ersten Zeile an in seinen Bann gezogen. Sprachlich ebenso gewandt wie leichtfüßig entwirft die Autorin eine Gesellschaft, die scheinbar das Patentrezept für alle sozialen Probleme gefunden hat, indem sie sich „rechtzeitig“ deren Wurzeln annimmt: der Menschen. Dabei verzichtet sie dankenswerterweise auf einen plakativen Richtig-oder-falsch-Kontrast, sondern wägt subtil das persönliche wie gemeinschaftliche Bedürfnis nach Sicherheit und Absicherung gegen den individuellen Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung ab: eine literarische Kosten-Nutzen-Analyse des menschlichen Kollektivs, in der die Grenze zwischen Utopie und Dystopie erschreckend durchlässig ist. Große Leseempfehlung!
[Werbung/Rezensionsexemplar. Ich danke dem Hoffmann und Campe Verlag herzlich für das mir kostenlos zur Verfügung gestellte E-Book.]
Fríða Ísberg: Die Markierung. Aus dem Isländischen von Tina Flecken. Hoffmann und Campe 2022 (E-Book)
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