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Lisa Quentin: Ein völlig anderes Leben

Nein, sie hatten wahrlich nicht das beste Verhältnis. Seit der Vater die Familie verlassen hat und ihre Schwester „verschwand“, bestand Jules Familie nur noch aus ihrer Mutter, und die zog sich nur allzu oft in schwermütigen Phasen von ihrer Arbeit, ihrem Leben, ihrer Tochter zurück. Dennoch fühlt Jule sich nun, da ihre Mutter gestorben ist, einsam. Verlassen. Man könnte sagen, „entwurzelt“ – wenn es denn je so etwas wie echte Wurzeln – familiäre, soziale, emotionale – gegeben hätte. Bei der Wohnungsauflösung stößt sie indes auf Dokumente, die darauf hinweisen, dass ihre Mutter gar nicht ihre Mutter war, zumindest nicht ihre leibliche. Jule wurde, ohne dass sie je davon erfuhr, adoptiert, und das auf höchst umstrittenen Wegen. Erklärt das die Distanz, die sie immer zu spüren meinte? Und wäre ihr Leben „ein völlig anderes Leben“ geworden, wenn sie bei ihren leiblichen Eltern aufgewachsen wäre? Jule beschließt, diesen Fragen auf den Grund zu gehen, und macht sich auf die Suche nach ihren Wurzeln – und damit letztlich nach sich selbst.

 

In ihrem Debütroman Ein völlig anderes Leben nimmt Lisa Quentin sich eines aufwühlenden Themas und damit zugleich eines Aspekts der jüngeren deutschen Geschichte an, der – zumindest meinem Empfinden nach – in der öffentlichen Wahrnehmung eine erstaunlich, vielleicht sogar erschreckend untergeordnete Rolle einnimmt. Aus zwei Erzählperspektiven schildert sie eindrücklich die Geschichte zweier Frauen, die zugleich so viel mehr ist als der literarische Bericht zweier Einzelschicksale. Die Umstände, die zu der Adoption führten, die von ihr verursachten seelischen Wunden und tiefen Spuren, die sie in den beiden Protagonistinnen hinterließ, bieten nicht nur den Hintergrund für ein aufwühlendes, emotionales und intensives Leseerlebnis, sondern zugleich ein literarisiertes Stück Zeitgeschichte, das noch lange nachwirkt.

Ein bemerkenswertes Debüt und eine lohnenswerte Lektüre!

 

[Werbung/Rezensionsexemplar. Ich danke Lisa Quentin und dem Goldmann Verlag herzlich für das mir zur Verfügung gestellte Leseexemplar.]

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