Birgit ist tot. Unfall? Freitod? Diese Frage wird sich wohl nie abschließend beantworten lassen. Natürlich hat Kaspar schon seit Langem gespürt, dass es Birgit nicht gut geht. Ihr besorgniserregender Alkoholkonsum. Ihre unzähligen Vorhaben, die sie letzten Endes doch irgendwann wieder aufgegeben hat. Wie ihr Romanprojekt zum Beispiel. Gab es das überhaupt? Oder war Birgits Rückzug in ihre Schreibstube nichts weiter als ein Vorwand, ungestört trinken zu können?
Als Kaspar sich in der Lage sieht, Birgits Unterlagen durchzusehen, beginnt er zu begreifen, was seine Frau ihre gesamte Ehe hindurch belastet hat: Kurz bevor sie, die ostdeutsche Studentin, zu Kaspar in den Westen floh, hat sei ein Kind bekommen. Eine Tochter, von deren weiterem Schicksal Birgit nichts wusste, eine Tochter, die Birgit nur allzu gern wiedergesehen hätte, doch dazu fehlte ihr der Mut, fehlte die Kraft.
Tatsächlich macht Kaspar die verschollene Tochter seiner Frau ausfindig, eine ehemals gewalttätige, drogenabhängige Rechtsradikale, die nunmehr mit Mann und Tochter in einer sogenannten völkischen Gemeinschaft auf dem Land lebt. Vorsichtig nähert sich Kaspar der Familie, vor allem Birgits Enkelin Sigrun, an, baut behutsam eine Beziehung zu dem jungen Mädchen auf, das in einem ihm fremden, seine Werte ablehnenden Kosmos aufwächst, lädt sie zu sich nach Berlin ein, präsentiert ihr fast beiläufig eine andere Lebenswelt. Und fragt sich, ob und wie lange das gut gehen kann …
Was soll ich sagen? Wenn es darum geht, die jüngere und jüngste deutsche Geschichte sowie die Gegenwart auf feinsinnige, intelligente und gleichzeitig unterhaltsam-fesselnde Weise zu literarisieren, dann ist Bernhard Schlink, man kann es nicht anders sagen, eine sichere Bank. Und dies gilt in besonderer Weise auch für seinen neuesten Roman Die Enkelin. Der besondere Reiz – ich möchte fast sagen: Zauber – von Schlinks Erzählkunst liegt in seiner Unaufgeregtheit, seiner feinen Beobachtungsgabe, seinem Blick für Details und kleine Facetten und nicht zuletzt in seiner Begabung, vielschichtige Figuren zu zeichnen. Wie in allen seinen Romanen gibt es auch in Die Enkelin kein Schwarz und Weiß, kein eindeutiges Gut und Böse, keine einfachen oder gar vereinfachenden Antworten auf große Fragen, ebenso wenig gibt es ein fadenscheiniges Happyend – aber einen Schimmer von Hoffnung. Ganz große Leseempfehlung!
[Werbung/Rezensionsexemplar. Ich danke NetGalley und dem Diogenes Verlag herzlich für das mir kostenlos zur Verfügung gestellte E-Book.]
Bernhard Schlink: Die Enkelin. Diogenes Verlag 2021. 368 S.
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