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Jean Cocteau: Kinder der Nacht

Dies ist keine Rezension im eigentlichen Sinne, sondern eine Liebeserklärung. Und eine persönliche Lesegeschichte.

 

Es ist jetzt fast dreißig Jahre her, dass ich Cocteaus Les enfants terribles im Französischunterricht las. Und schon damals nahm mich die Geschichte gefangen, faszinierte mich diese Schullektüre, die sich von allen anderen Büchern des Curriculums so abhob, über alle Maßen.

Zehn Jahre später kramte ich meine ramponierte Schulausgabe – der ich u. a. die entzückende Vokabel „bric-à-brac“ verdanke – jobbedingt noch einmal hervor, um damit meine etwas eingerosteten Sprachkenntnisse aufzufrischen. Und wieder stellte sich dieselbe Faszination ein. Beide Male nahm ich mir vor, den Roman unbedingt in der deutschen Übersetzung zu lesen, um sicherzugehen, dass mir kein Detail entgangen ist. 

Aber wie das mit solchen Vorhaben nun einmal ist: Man denkt daran … und vergisst es wieder. So ging es mir, bis – ja, bis zu einem Instagram-Beitrag, der mir diesen Wunsch nach Wiederlektüre ins Gedächtnis rief. (Und dieses Mal setzte ich das Vorhaben endlich in die Tat um.) 

 

Was soll ich sagen? Sie fesselte mich aufs Neue, die bizarre Geschichte des Geschwisterpaares Paul und Elisabeth, dessen (selbst-)zerstörerische Beziehung nicht nur sie selbst, sondern auch Unschuldige in ihren Bann und ins Verderben zieht. Zentrum des Geschehens ist das verwahrloste Zimmer der „schrecklichen Kinder“, deren siechende Mutter mit „dem Egoismus der Leidenden“ weder Kraft noch Interesse für Sohn und Tochter aufbringt, und deren alkoholabhängiger Vater sich lieber mit seiner Mätresse vergnügt. Dort schlafen, essen, waschen, leben die beiden Teenager, und vor allem spielen sie „das Spiel“: ein hypnotischer Zustand des Halbbewusstseins, in dem sie versinken, in dem Traum und Wirklichkeit sich vermengen, in dem die Gesetze der Außenwelt keinen Bestand haben; ein ungewisser Dämmer, der eine eigene Realität erschafft. Paul und Elisabeth bleiben, ungeachtet der tatsächlich vergehenden Jahre und sich ändernder Umstände, der Kindheit verhaftet, sie „[fahren] fort zu leben, als lägen sie in einer Zwillingswiege“; und dieses Leben besteht hauptsächlich in gegenseitiger Vergötterung und Zerfleischung – bis zum unausweichlichen Ende. 

 

Kinder der Nacht ist 1927 erschienen, und es hat in seiner fast hundertjährigen Existenz nichts von seiner Kraft, seiner Faszination und seiner Sprachgewalt eingebüßt. Ein Roman wie ein Fiebertraum: Manche Sätze sind ergreifend schlicht, manche fulminant – und nicht wenige in ihrer ergreifenden Schlichtheit fulminant.

 

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Jean Cocteau: Kinder der Nacht. Deutsch von Friedhelm Kemp. Klett Cotta Verlag 2018 (10. Auflage), 119 S. (Cotta's Bibliothek der Moderne)

 

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