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Nicci French: Eine bittere Wahrheit

Ich bin ein großer Fan des Autoren-Ehepaars Nicci Gerrard und Sean French, das unter dem Pseudonym „Nicci French“ seit nunmehr 20 Jahren ebenso spannende wie abwechslungsreiche Romane schreibt. Ihr neuestes Werk, Eine bittere Wahrheit, bietet einerseits eine interessante, weil sperrige und auf erfrischende Weise nicht allzu sympathische Hauptfigur, einen gemessen am Inhalt außergewöhnlichen Handlungsort (zumindest im ersten Teil) und viele offene Fragen, die erst ganz am Ende restlos beantwortet werden. Andererseits weist es leider die eine oder andere Länge auf, auch die Schlüssigkeit wird arg strapaziert.

 

Und darum geht es:

Tabitha Hardy sitzt im Knast: Sie soll ihren Nachbarn ermordet haben. Noch befindet sie sich „nur“ in Untersuchungshaft, doch ihre Anwältin macht ihr wenig Hoffnung: Zu erdrückend scheinen die Indizien, die gegen sie sprechen. Nicht nur, dass der Leichnam in ihrem Gartenschuppen gefunden wurde, zu dem außer ihr zum mutmaßlichen Tatzeitpunkt niemand Zugang hatte, sie kannte den Toten auch aus ihrer Vergangenheit. Stuart Rees war einst ihr Mathelehrer – und hat ihr, als sie gerade fünfzehn war, mehrfach sexuelle Gewalt angetan. Überdies ist Tabitha äußerst labil, leidet an Depressionen und nimmt Medikamente, die ihr Bewusstsein trüben. Die Dorfbewohner*innen sind sich jedenfalls einig: Diese wortkarge, mürrische Eigenbrötlerin ist eine Mörderin. Und Tabithas Pflichtverteidigerin scheint das ähnlich zu sehen, rät sie ihrer Mandantin doch, auf schuldig zu plädieren und die Strafe damit wenigstens abzumildern.

Tabitha selbst kann sich an die Tat, ja, an den ganzen Tag kaum erinnern. Doch trotz ihrer Erinnerungslücken ist sie sich sicher: Sie war es nicht. Kurzerhand beschließt sie, ihre Anwältin zu feuern und sich selbst zu verteidigen. Ohne juristische Vorkenntnisse. Nahezu ohne Hilfe. Und aus dem Gefängnis heraus … Schon bald stellt Tabitha fest, dass Stuart Rees keineswegs jene allseits beliebte Stütze der Gesellschaft war, zu der man ihn nach seinem gewaltsamen Tod verklärt. Tatsächlich gibt es so einige, denen der Ermordete das Leben schwergemacht hat. Doch wer von ihnen hatte ein echtes Mordmotiv – und die Gelegenheit?

 

Eine bittere Wahrheit (aus dem Englischen von Birgit Moosmüller) hinterlässt bei mir etwas gemischte Gefühle. 

Ich mochte die Protagonistin Tabitha trotz oder gerade aufgrund ihrer mangelnden Anpassungsfähigkeit, ihrer Schroffheit und Sperrigkeit ausgesprochen gern. Diese Frau will nicht gefallen, sie legt es nicht darauf an, gemocht zu werden, ihr liegt nichts an Friede, Freude, Eierkuchen. Doch sie ist mutig – um nicht zu sagen, waghalsig –, sie steht für sich ein, steht zu ihren Schwächen, sie ist impulsiv – und genau das macht sie in meinen Augen zu einer sehr besonderen Romanfigur, die mich überdies stellenweise an eine andere Protagonistin des Nicci-French-Universums erinnert: an Frieda Klein, die Hauptfigur der Blauer Montag-Reihe. Auch das Frauengefängnis als Research-Base, von der aus Tabitha vollkommen ahnungslos ihre Verteidigung plant, ist als Handlungsort sehr originell und verleiht dem Handlungsgerüst „Junge Frau sucht den wahren Mörder“ einen interessanten Twist, der durch die Handlungsfortführung im Gerichtssaal keineswegs geschmälert wird. Gleiches gilt für die wachsende Zahl der Verdächtigen, die Tabitha im Laufe der Recherche zutage fördert: Agatha-Christie-artig präsentiert sich ein ganzes Tableau an potenziellen Täter*innen, die gleichzeitig ein offenbar wasserdichtes Alibi haben – mit gerunzelter Stirn folgt man jeder einzelnen Figur und fragt sich, wer zum Kuckuck es denn jetzt wirklich war. (Oder war’s doch die Angeklagte?)

 

Was indes zu wünschen übrig lässt, ist – leider! – die Plausibilität. Dass gegen Tabitha überhaupt Anklage erhoben wurde, dürfte jedem Staatsanwalt und jeder Staatsanwältin ein herzliches Lachen entlocken. Die „Beweislage“ basiert ausschließlich auf einer Handvoll Indizien und fragwürdigen Zeugenaussagen und ist so dürftig, dass selbst der Laie kopfschüttelnd abwinkt. Überhaupt agieren nahezu alle in Tabithas Fall involvierten Profis – die Pflichtverteidigerin, der Staatsanwalt und seine Kollegin, der leitende Ermittlungsbeamte – die meiste Zeit derart dilettantisch oder schlichtweg doof, dass es unglaubwürdig wird. Auch wenn einige der Verhaltensweisen dramaturgisch erforderlich sind: Stellenweise wurde nach meinem persönlichen Geschmack die Plausibilität zu sehr auf dem Altar der Dramaturgie geopfert.

 

Und doch kann ich die Lektüre – bei einer reduzierten Erwartungshaltung – durchaus empfehlen, da die positiven Aspekte aus meiner Sicht überwiegen.

 

[Werbung/Rezensionsexemplar. Ich danke dem Bertelsmann Verlag und dem Bloggerportal von Random House herzlich für die kostenlose Bereitstellung des Leseexemplars.]

 

Nicci French: Eine bittere Wahrheit. Aus dem Englischen von Birgit Moosmüller. Bertelsmann Verlag 2020. 505 S.

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