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Anke Stelling: Fürsorge

„Nadja ist leicht und unnatürlich biegsam.

Marion ist schwer und unnatürlich stark.

Er betrachtet Nadja als eine seiner Trainingsmaschinen, dazu vorgesehen, die Funktionen seines Körpers zu verbessern.

Nadja betrachtet Mario als Gesamtkunstwerk, dazu vorgehsehen, ihr Genuss zu verschaffen.“ (S. 57)

 

Mario ist 16, Nadja ist 36 – und Marios Mutter. Sie hat ihn gleich nach der Geburt der Fürsorge ihrer Mutter Hanne überlassen, um sich ihrer Ballettkarriere zu widmen. Jetzt, sechzehn Jahre später, ist die Bühnenkarriere vorbei, der Körper kaputtgeschunden, Nadja arbeitet als Dozentin an einer Ballettakademie und ignoriert die allgegenwärtigen Schmerzen. Als sie beschließt, wieder Kontakt zu ihrem Sohn aufzunehmen, sieht niemand vorher, wie eng dieser Kontakt wird. Kurz nach ihrer Ankunft in ihrer Heimatstadt entspinnt sich ein heftiges sexuelles Verhältnis zwischen Nadja und Mario, zwischen Mutter und Sohn. Doch das scheint niemand wahrzunehmen – oder wahrnehmen zu wollen – außer der Erzählerin. 

 

Fürsorge ist ein hervorragend erzählter und zugleich nur schwer erträglicher Roman, der bei mir während der Lektüre und noch lange danach zahlreiche Fragen aufgeworfen hat.:

  • Was macht die Beziehung zwischen einer Mutter und einem Sohn aus?
  • Ist es in erster Linie die biologische Abstammung des einen von der anderen?
  • Oder ist die emotionale und soziale Bindung entscheidend?
  • Was, wenn diese Bindung fehlt, weil die Mutter sich nicht um den Sohn gekümmert, für ihn gesorgt hat und keinen Kontakt zu ihm hatte?
  • Ist es abseits aller moralischen und gesellschaftlichen Parameter überhaupt denkbar, dass eine Mutter ihren ihr gleichsam fremden Sohn als körperlich anziehend empfindet und diese körperliche Anziehung intensiv mit ihm auslebt? 

 

Eine weitere Frage, die mich nicht losließ, war: Ist das überhaupt alles wahr? Ist das wirklich so passiert? Kurz: Stimmt das?!

 

Fraglos werden die „Liebes“-Szenen zwischen den beiden sich in erster Linie über ihren Körper und ihre Körperlichkeit definierenden, attraktiven Figuren Nadja und Mario in deutlichen, teils drastischen und keine Leerstelle lassenden Worten geschildert. Insofern scheint die Antwort auf der Hand zu liegen: Ja, klar! Mutter und Sohn lassen doch keine freie Minute voneinander ab! Dass diese Frage aus meiner Sicht dennoch ihre Berechtigung hat, liegt an der raffiniert gewählten Erzählperspektive: Das Geschehen wird nicht etwa von einem auktorialen, allwissenden Erzähler berichtet, sondern aus der Sicht einer anderen Figur. 

 

Die Erzählerin Gesche hat, zumindest habe ich das während des Lesens so empfunden, ein intensives, beinahe obsessives, wenn nicht sogar ungesundes Interesse an Nadja, der sie während eines Abendessens im privaten Kreis zum ersten Mal begegnet. Sie ist offenkundig fasziniert von dieser wortkargen, fragilen, wunderschönen und etwas enigmatischen Rothaarigen, die in jeglicher Hinsicht Gesches Gegenteil darzustellen scheint. Gesche ist es, die von Nadja und Mario, von dem, was sich zwischen ihnen entwickelt und abspielt, erzählt – ohne es streng genommen überhaupt wissen zu können. Sie war nicht dabei. Sie erwähnt niemanden, der es ihr erzählt haben könnte. Sie hat letzten Endes – keine Ahnung. Und so blieb für mich die Frage „Ist das wirklich so?!“ letztlich unbeantwortet.

 

Deshalb meine Frage an alle, die Fürsorge schon gelesen haben: Habt ihr das auch so empfunden? 

 

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Anke Stelling: Fürsorge. Verbrecher Verlag 2017. 171 S.

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