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Toni Morrison: Sehr blaue Augen / Dokumentation: "Der Rassist in uns"

„Wenn Glück Vorfreude mit Gewissheit ist, dann waren wir glücklich.“

 

Pecola ist nicht glücklich, Pecola ist hässlich. Zumindest findet sie das. Was ihrer Hässlichkeit Abhilfe schaffen könnte? Sehr blaue Augen, davon ist sie überzeugt. So blaue Augen wie Shirley Temple, deren Bild ihre Lieblingstasse ziert. Wie die Puppen, die sie nicht besitzt. So blaue Augen wie all die rosigen, blondgelockten Mädchen, denen jeder mit Freundlichkeit und Verzückung begegnet. Doch Pecola hat dunkle Augen. Dunkles Haar. Eine dunkle Haut. Wenn Pecolas Augen sehr blau wären, wären die Menschen auch zu ihr immer freundlich. Dann würde sie nicht mehr schlecht behandelt werden. Nicht mehr von den Jungs in der Schule geärgert und gehänselt werden. Ihre Mutter würde sie lieben. Und sie würde nicht ein Kind von ihrem eigenen Vater erwarten. Ja, sehr blaue Augen, die würden alles verändern …

 

Sehr blaue Augen, erschienen 1970, ist der Debütroman der späteren Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison. Mit schlichten Worten und kraftvoller Sprache schildert sie das Leben des Mädchens Pecola Breedlove in den 1940er Jahren in Ohio. Dabei werden die Geschehnisse aus Sicht der gleichaltrigen Ich-Erzählerin Claudia geschildert – selbst in ihrer eigenen Geschichte bleibt Pecola eine Randfigur, von der Erzählerin und ihrer Schwester unverstanden, ihr innigster Wunsch unnachvollziehbar. „Rassismus“ ist ein Wort, das sich in diesem Roman kein einziges Mal expressis verbis findet, und doch allgegenwärtig ist. In einem Nachwort zu der amerikanischen Ausgabe von 1993 erläutert die Autorin:

 

„‚Sehr blaue Augen‘ entsprang meinem Bemühen […] etwas darüber zu sagen, warum jenes Mädchen nie erfahren hatte und vielleicht nie erfahren würde, was sie besaß; und warum sie um eine so radikale Veränderung betete. Ihr Verlangen war ohne rassistischen Selbsthass undenkbar. Und zwanzig Jahre später fragte ich mich noch immer, wie man solchen Selbsthass lernt.“

 

Jetzt, ein weiteres Vierteljahrhundert später, frage ich mich, warum Rassismus noch immer ein Thema ist, ob er je überwunden werden wird. Ich habe selbst einen Migrationshintergrund. Er ist nicht an meinem Namen ablesbar. Man sieht ihn mir nicht an. Man hört ihn mir nicht an. Und so habe ich diesbezüglich nie Diskriminierung, Herabwürdigung oder Ausgrenzung erfahren. Meine Mutter allerdings schon, ihr Akzent verrät unmissverständlich, dass sie keine genuin rheinische Frohnatur ist. Sie erlebt Diskriminierung – Gottseidank! – nicht häufig, aber es kommt vor. Im Job. In Behörden. Konfrontiert man die „Täter*innen“ mit ihren Worten, zeigen sie sich betroffen, verstört, „das war doch alles nicht so gemeint“. Manche besitzen den Anstand, sich zu schämen. Andere ziehen (aufgrund unserer Beschwerde) sogar unmittelbare Konsequenzen und organisieren Workshops, um ihre Mitarbeiter*innen zu sensibilisieren. Chapeau!

 

Rassismus: Das sind nicht nur die braunen Parolen verblendeter Vollidioten. Rassismus sind kleine Bemerkungen, Verallgemeinerungen, alltägliche Ausgrenzungen und manchmal auch nur winzige Abgrenzungen zwischen „Wir“ und „Die“. Und es ist so unfassbar leicht, sich dessen schuldig zu machen, auch ohne es zu wollen oder zu beabsichtigen. Wie schnell es passieren kann, selbst zur/zum Ausgrenzenden, Diskriminierenden zu werden, zeigt das sogenannte Blue-Eyed-Experiment. Mein Tipp: Die ZDFneo-Dokumentation Der Rassist in uns (abrufbar bei YouTube).


 

Bitte, lest dieses Buch. Auch wenn es euch das Herz zerreißt.

Und bitte, schaut diese Dokumentation. Auch wenn es euch schüttelt.

 

[Werbung aus tiefster Überzeugung. Unbezahlt und unbeauftragt.]

Toni Morrison: Sehr blaue Augen. Deutsch von Susanna Rademacher. Rowohlt Taschenbuch Verlag 1994. 173 S.


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