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Joséphine Nicolas: Das Haus am Meeresufer

DIE ARCHITEKTUR IST EINE FRAU.

„An manchen Tagen rettete mich die Liebe, an anderen die Architektur.“

Paris in den Zwanzigerjahren. Als ihre Liebe zu der Chansonnière Damia zerbricht, ist es die Architektur, die der Interieurkünstlerin Eileen Gray eine neue Lebensperspektive bietet. Die Architektur – und dann doch wieder die Liebe. Aus der anfangs behutsamen Freundschaft zu dem um etliche Jahre jüngeren Architekturkritiker Jean Badovici entwickelt sich erst eine tiefe Verbundenheit, die von gegenseitigem Respekt und wechselseitigem Lehren und Lernen geprägt ist, und schließlich, beinahe unvermeidlich: Liebe.

Während die Öffentlichkeit noch uneins ist, was sie von der ungewöhnlichen Formensprache Eileens halten soll – die einen rühmen sie als eigengeprägte und originelle Künstlerin, während die anderen sie als „Caligaris Tochter“ verhöhnen –, ist Jean von Eileens Talent beeindruckt und überzeugt. Er erkennt ihr Potenzial, ihre Originalität, ihr kompromisslos klares Design als das, was es ist: absolut einzigartig. Modern. Visionär.

„‚Zeig der Welt, was du kannst. Ich weiß schon jetzt, dass dein Haus außergewöhnlich werden wird, Eileen.‘
Es gehört uns beiden, Jean. Das Haus sind wir. Du und ich.‘“

Bestärkt durch Jeans unerschütterliches Vertrauen in ihr Können, wagt Eileen sich an ihr bislang größtes, letztlich bahnbrechendes Vorhaben: Sie baut ihm eine Villa an der französischen Riviera: E.1027, die „maison en bord de mer“, das Haus am Meeresufer. Doch wo außerordentliches Talent ist, sind Selbstsucht und Missgunst nicht fern. Erst recht, wenn die derart talentierte Person eine Frau ist, zudem eine, die in einem männlich dominierten, nach Aufmerksamkeit gierenden Metier „in leisen Farben denkt“. Wie soll, wie kann man in einer solchen Welt bestehen, wenn das Grelle und das Laute in die eigene Stille und Klarheit einbrechen, wenn die feine Grenze zwischen Bewunderung und Neid verwischt, ja verschwindet?

Joséphine Nicolas schafft es wie keine Zweite, Frauen, die in der kollektiven Wahrnehmung allenfalls eine untergeordnete Rolle spielen, aus der Dunkelheit des Vergessens zu befreien und ihnen eine eigene, unverwechselbare Stimme zu verleihen. Nach ihrem fulminanten Romandebüt „Tage mit Gatsby“, in dem sie Zelda Fitzgerald aus dem erdrückenden Schatten ihres berühmten Ehemannes Scott hat treten lassen (wer es noch nicht gelesen hat, dem sei die Lektüre an dieser Stelle wärmstens empfohlen!), widmet sie sich in ihrem neuen Roman der Avantgardistin Eileen Gray. Versiert und detailliert recherchiert, literarisch überzeugend und sprachlich betörend zeichnet die Autorin ein eindringliches Bild einer bewunderten und beneideten, gefeierten und unverstandenen, etwas spröden und gleichzeitig herzzerreißend feinsinnigen Frau, die den ästhetischen Konventionen ihrer Zeit ihr Ausnahmetalent und ihre visionäre Kraft entgegensetzte: das kongeniale Porträt einer (fast) vergessenen Ikone. Für mich ein Jahreshighlight, das ich von ganzem Herzen weiterempfehle!

[Werbung/Rezensionsexemplar. Ich danke NetGalley und DuMont für das mir kostenlos zur Verfügung gestellte E-Book.]

 

Joséphine Nicolas: Das Haus am Meeresufer. DuMont 2023. 416 S.

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