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Juli Zeh: Über Menschen

Dora ist ausgelaugt. Die Beziehung zu ihrem Freund wird zusehends belastet, denn Robert entwickelt immer militantere Ansichten zum Umweltschutz, zur Durchsetzung von Corona-Maßnahmen, überhaupt zu allem, was derzeit bewegt. Und er erhält als Online-Redakteur ungeahnten Zuspruch. Dora selbst hat trotz der Pandemie und eingefrorener Budgets ihren Job als Senior-Texterin einer Werbeagentur zwar behalten können, doch das Homeoffice ihrer gemeinsamen Altbauwohnung ist plötzlich viel zu klein, viel zu eng, seit Robert und sie pausenlos aufeinander hocken. 

Kurzentschlossen packt Dora ihre Hündin und zieht in ihr frisch erworbenes Haus im brandenburgischen Dorf Bracken – ohne Robert. Ein altes Gutshaus, ein verwildetes Grundstück und „dank“ Lockdown viel Zeit; Dora hofft, hier endlich zur Ruhe zu kommen. Die Zimmer streichen, den Garten kultivieren und nebenbei an der Werbekampagne für ein neues – selbstverständlich nachhaltiges – Jeanslabel arbeiten: So könnte man dem Wahnsinn entkommen, ohne ihm selbst anheimzufallen.

 

Doch Bracken ist nicht Berlin, weder was seine Bewohner*innen noch deren Leben oder Probleme angeht. Doras direkter Nachbar, der kahlrasierte „Gote“, stellt sich ihr gleich unmissverständlich als „der Dorf-Nazi“ vor. Der andere Nachbar, Heini, macht gerne Witze, die nicht nur die Grenzen des guten Geschmacks überschreiten. Tom wiederum, der mit seinem Mann Steffen eine kleine Floristik-Manufaktur unterhält, wählt die AfD. Eigentlich alles klar. Oder? Genau so stellt man sie sich vor, die Dörfler jenseits des Speckgürtels. Tendenziell rechts, rassistisch und abgehängt.

 

Doch so einfach ist die Welt, wie man sie sich als Vertreterin einer woken Generation im urbanen Berlin vorstellt, dann doch nicht, muss Dora erkennen. Wenn es um reale Personen geht, greifen sozio-kulturelle Kategorien nur bedingt – oder gar nicht. Denn der „Dorf-Nazi“ ist eben nicht nur der Dorf-Nazi (auch wenn er des Abends mit Gleichgesinnten das Horst-Wessel-Lied singt). Der AfD-Wähler ist nicht nur ein AfD-Wähler. Der homosexuelle Ex-Schauspieler nicht nur ein Feingeist. Doch wenn es auf all diese Kategorien nicht ankommt, wenn keine*r in die ihm zugewiesene Schublade passt, was sagt das über ihn und noch viel mehr über die aus, die in diesen Schubladen denkt? Und worauf kommt es denn eigentlich dann an?

 

Uff. Selten hat mich eine Lektüre so unentschlossen, so ratlos hinterlassen wie diese. Der Anfang des Romans hat mich entsetzlich erschöpft, denn Juli Zeh packt im ersten Viertel gleich das ganz große Besteck aus: Pandemie, Klimakatastrophe, Flüchtlingskrise, Alltagsrassismus, Rechtsextremismus, Chancenlosigkeit, Wendeverlierer, struktureller Wandel – es bleibt nahezu nichts unerwähnt. Und so sehr all diese Themen natürlich ihre Berechtigung haben, so sehr sie es verdient haben, auch literarisch geformt, benannt und transportiert zu werden: Es ermüdet nicht nur, letztlich wird die Fülle den Sachverhalten im Einzelnen auch nicht gerecht. 

 

Die Geschichte Doras, die das urbane Kreuzberg hinter sich lässt, um im brandenburgischen Dorf Bracken der Pandemie (und ihrem bisherigen Leben) zu entfliehen, ist insgesamt zweifellos aktuell, die geschilderten Probleme akut, die Quintessenz ihrer Erkenntnis, dass soziokulturelle Kategorien nur bedingt dazu taugen, einen „echten“ Menschen in seiner Gesamtheit zu erfassen, wahr – und gleichzeitig entsetzlich banal. 

 

Man muss nicht Soziologie studiert haben, um zu wissen, dass sich Identität aus vielen verschiedenen Rollen zusammensetzt, die mitunter in Konflikt zueinander stehen. Man muss nicht in ein brandenburgisches Dorf ziehen, um zu wissen, dass die Wende nicht nur „blühende Landschaften“ erzeugt hat. Und man muss auch nicht die Tochter eines wohlhabenden renommierten Chirurgen sein und erst eine alleinerziehende Mutter mit Knochenjob kennenlernen, um zu erkennen, dass soziale Ungerechtigkeit existiert. „Man“ muss das nicht – Dora, die naive, um nicht zu sagen: etwas dümmliche Protagonistin, schon. 

 

Dennoch konnte ich dem Roman letzten Endes einiges abgewinnen, und das liegt vor allem an Juli Zehs Erzähltalent. So ermüdend für mich bisweilen der Inhalt, so banal die Botschaft auch waren – so gut waren die Sprache, die Art des Erzählens und letztlich auch die Handlung.

 

Deshalb kann ich Über Menschen weder uneingeschränkt empfehlen, noch kann ich von der Lektüre abraten. Ich kann nur sagen, dass ich die Meinung jener, die das Buch feiern, ebenso nachvollziehen kann wie derer, die genervt die Augen verdrehen. Vielleicht macht ihr euch am besten selbst ein Bild?

 

[Werbung/Rezensionsexemplar. Ich danke dem Bloggerportal und dem Luchterhand Verlag herzlich für das mir zur Verfügung gestellte Leseexemplar.]

 

Juli Zeh: Über Menschen. Luchterhand Verlag 2021. 412 S.

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