Wenn man sich für Kunst interessiert, ja, sogar begeistert, ist Düsseldorf nicht der schlechteste Wohnort: zahlreiche Museen mit sehenswerten Dauer- und vielfältigen Wechselausstellungen, und das nur ein paar U-Bahn-Haltestellen vom eigenen Zuhause. Einen Nachteil bringt diese Nähe indes mit sich: Beginnt eine neue die eigene Neugierde weckende Ausstellung, ist man nur allzu leicht versucht, den Besuch immer weiter hinauszuschieben. Sie hat ja gerade erst begonnen. Man hat ja noch so viel Zeit. Der Weg ist ja nicht weit. Kann man ja immer noch hingehen, mag sich manch einer denken. Und dann nähert sich das Ende ... So erging es mir, ich gebe es zu, mit der Edvard-Munch-Ausstellung im K20. Sie läuft nur noch zwei Wochen - wenn ihr sie sehen möchtet (wozu ich unbedingt rate), solltet ihr euer Vorhaben also nicht mehr allzu lange hinauszögern.
Karl Ove Knausgård kuratiert eine Ausstellung von Edvard Munch - allein das weckte schon mein Interesse -, doch er möchte keine Bildunterschriften. Es gibt zwar eine Broschüre mit einer Liste der ausgestellten Werke, doch auf die üblichen erläuternden Texte wird auf Wunsch des Kurators verzichtet, denn:
"Der Schriftsteller möchte den Besucherinnen und Besuchern ein eigenständiges, unvoreingenommenes Sehen ermöglichen."
Nun, das ist natürlich sein wohlfeiles Recht als Kurator, und man mag davon halten, was man will - aber für einen Schriftsteller, der, gemessen an dem durchschnittlichen Umfang seiner Bücher, nicht gerade als wortkarg gelten kann, ist dieses Ansinnen doch recht überraschend.
Und ich muss sogleich gestehen: Ich habe Knausgårds Wunsch nicht respektiert. Dank des wunderbaren Buchtipps einer noch wunderbareren Frau konnte ich, die ich bis dato nur eine äußerst vage Vorstellung von Edvard Munchs Leben und Œuvre hatte, mich ein wenig in das (Seelen-)Leben, in die Zerrissenheit, die Bodenlosigkeit seiner Gefühle, in die Genialität und den teil- und zeitweise verwirrten Geist dieses Ausnahmekünstlers einlesen und einfinden.
Deshalb kann ich euch leider nicht berichten, ob Knausgårds Konzept für mich aufgegangen wäre und ob es aus meiner persönlichen Sicht ein erstrebenswertes Kunsterlebnis darstellt. Aber ich kann euch versichern, dass die Kombination aus Tanja Langers Buch Der Maler Munch und der Ausstellung im K20 ein schier unbeschreiblicher und intensiver Genuss ist. Darum möchte ich diesen Beitrag ausdrücklich nicht als Bericht, sondern als eine Art Bild-Schrift-Essay gestalten, als eine Melange aus Edvard Munchs Gemälden und Tanja Langers Text. Die zitierten Textstellen beziehen sich in dem Buch nicht ausdrücklich auf die gezeigten Bilder - aber sie passendes meiner Sicht einfach so gut!
"[...] nackt sind die Menschen einfach viel interessanter,
die Farbigkeit reduziert,
die Fläche reduziert [...]."
(Tanja Langer: Der Maler Munch, S. 33)
"Alles war still, totenstill. Er saß allein auf dem Bett in der Dunkelheit, sein Bett war eine Folterkammer, er roch ihr schönes Haar.
Er hörte sein Herz, ein Hammer in seinem Gehirn.
Er starb."
(Tanja Langer: Der Maler Munch, S. 38)
"Leben ist Licht und Bewegung,
kritzelt er auf ein abgerissenes Stück Papier und stopft es in seinen Koffer zu den übrigen Notizen."
(Tanja Langer: Der Maler Munch, S. 78)
"Leben ist Licht und Bewegung" ... das rechte Bild trägt den Titel Das Leben: rechte Hälfte.
Wie mag Edvard Munch sein Leben zu jener Zeit empfunden haben, wenn doch Leben Licht und Bewegung ist?
"Der Winter ist gläsern und blau."
(Tanja Langer: Der Maler Munch, S. 93 u. a.)
"Es war nicht lustig, wenn die Farben nicht aufhören wollten zu schreien. Wenn der Schnee schrie. Er musste ihrer mit einer Form Herr werden. Er experimentierte, mit der Perspektive, dem Ausschnitt, dem Farbauftrag, mit Drucktechniken, die er kombinierte. Zugleich ging er auf genau diese Empfindungen zu, an die er sich erinnerte. An die Farben, die er gesehen hatte, an die Geräusche, die er gehört hatte."
(Tanja Langer: Der Maler Munch, S. 93 u. a. Hervorhebung von mir)
"Die Liebe ist keine Bagatelle. Die Natur ist keine Bagatelle. Nicht in Norwegen. Die Natur ist kein nettes Frühstück im feuchten Gras! Sie ist gewaltig und gewalttätig. Der Mensch ist ihr ausgeliefert. Winzig. Diese weißen Nächte, in denen die Bäume, die Felsen, alles spricht. Eine Urwelt aus Erde, Wasser, Luft. Drohend. Großartig. Schrecklich. Schweigend."
(Tanja Langer: Der Maler Munch, S. 111)
Munchs Werke sind berückend, erschreckend, verzaubernd, abstoßend - manchmal abwechselnd, manchmal vieles, wenn nicht gar alles zugleich. Die Ausstellung ist faszinierend und überwältigend (es sind einfach so unglaublich viele Bilder!); und obgleich ich den Ansatz, auf jegliche Form von Erläuterungen zu verzichten, nach wie vor befremdlich finde, muss ich Karl Ole Knausgård letzten Endes für diese Idee danken, denn sie ermöglichte mir eine ganz eigene, multisensorische Kunsterfahrung. Ich betrachtete die Bilder, setzte mich, las in dem Buch, und stellte immer wieder verblüfft fest, wie unglaublich treffend die Autorin das Wesen Munchs so, wie es sich in seinen Bildern ausdrückt, in ihrem Text eingefangen hat.
P. S. Trotz der unbeschreiblichen Menge an Exponaten fehlt eines von Munchs Bildern, das Bild, das wahrscheinlich jede*r kennt, das Bild, das untrennbar mit dem Maler Munch verbunden wird. Und so möchte ich abschließend noch einmal aus Tanja Langers Buch zitieren:
"Er will sich die Ohren zuhalten; er hört einen Mann schreien, die Passanten bleiben stehen und starren ihn an:
Er selbst ist der Mann, der schreit.
Scham. Scham bis ans Ende meiner Tage, denkt er, der in ihm, der nicht schreit.
Der, der schreit, kann gar nicht denken.
Das Geschrei ist so laut, er hält sich die Ohren zu."
(S. 86)
Edvard Munch, gesehen von Karl Ole Knausgård. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen (K20).
! Nur noch bis zum 1.3.2020!
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