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Elke Schmitter: Frau Sartoris

Manchmal wird man vom Navi umgeleitet und fährt unversehens durch kleine Ortschaften, in die man sich andernfalls niemals verirren würde. Kleine, anderthalbstöckige Häuser säumen schmale Straßen, wechseln sich mit Familienbetrieben in so-und-so-vielter Generation ab, zwischendurch sieht man eine Bäckerei. Wann immer es mich in einen solchen Ort verschlägt, stelle ich mir die Frage, ob die Menschen, die dort leben, besonders glücklich sind – der Vergleich ist ja bekanntermaßen die beste Voraussetzung, um unglücklich zu werden, und wenn es nichts und niemanden gibt, mit dem man sich vergleichen kann, weil alle mehr oder weniger in ähnlichen Verhältnissen leben, müsste das eigentlich mit einem hohen Maß an Zufriedenheit einhergehen. Oder ist die Überschaubarkeit, die Enge im Gegenteil ein Anlass, in Melancholie zu versinken, lauert hinter den verklinkerten Fassaden eine besondere Art von Grauen?

 

Die Ich-Erzählerin in Elke Schmitters Roman Frau Sartoris lebt in einer solchen Kleinstadt an einer Umgehungsstraße. Einst nannte man sie „die schöne Margarethe“ und sie hatte große Pläne. Schauspielerin wollte sie werden oder irgendetwas Ähnliches. Raus wollte sie, in die Welt. Verliebt war sie, bis über beide Ohren. Jetzt hat Margarethe die 40 überschritten, sie arbeitet noch immer in dem Betrieb, in dem sie ihre Ausbildung gemacht hat, sie liebt ihre Schwiegermutter heiß und innig – insgeheim war Irmi der eigentliche Grund, weshalb sie ihren Mann Ernst geheiratet hat –, er ist zwar nicht ihre große Liebe, aber das, was man gemeinhin einen guten Mann nennt, und sie hat sich arrangiert. Mit ihrer heranwachsenden Tochter versteht sie sich nicht gut, aber Gott, was will man machen. Samstags wird gemeinsam bei Bier, Wein und Salzstangen ferngesehen: Kulenkampff. Carrell. Frankenfeld. Und einmal in der Woche geht das Ehepaar zum Kegeln. Es könnte eigentlich ein gutes, ein behagliches Leben sein, eines, mit dem man sich abfinden kann. Und das tut sie. Sich abfinden. Sich arrangieren. Sie hat ja ihre kleinen Auszeiten vom Alltag, wenn sie mit ihrer Freundin Renate mal „einen zwitschern“ geht. Bis ein andere Mann in ihr Leben tritt. Margarethe findet sich plötzlich wieder schön. Begehrenswert. Lebendig. Noch ist es nicht zu spät, neu anzufangen – denkt sie …

 

Frau Sartoris ist trotz seines überschaubaren Umfangs von knapp 160 Seiten ein großer Roman. Und das liegt in besonderer Weise an Elke Schmitters überragender Sprache, die ich gar nicht hoch genug loben kann. Ich habe selten in einem Buch so viele Formulierungen, Sätze, Passagen markiert wie in diesem. Sie lässt ihre Protagonistin ihr enges, in vielerlei Hinsicht unfreies Leben sachlich, beinahe lakonisch beschreiben, man sieht sie förmlich mit den Achseln zucken. Doch unter der kleinbürgerlichen Oberfläche breitet sich eine Beklemmung aus, die mit jedem Wort tiefer in die Leser*innen einsickert, bis man irgendwann selbst den Drang verspürt, den Hemdkragen zu lockern, nach Luft zu schnappen und zu fliehen.

Ganz große Leseempfehlung!

 

[Werbung/unbezahlt/unbeauftragt]

 

Elke Schmitter: Frau Sartoris. Berlin Verlag 2000. 159 S.

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